Eindrücke während der Trauerwoche
Polen trauert. Aber wie ist es, mittendrin zu sein, Menschen tot zu wissen, mit denen man noch Wochen zuvor im einem Raum saß? Johannson gibt einen Einblick in die Situation.
Auf unserer ersten Führung des Sejm wurde uns die Wissensfrage nach der Nachfolge des Staatsoberhauptes gestellt. Ich hätte mir nicht gewünscht, das Wissen so schnell zu brauchen. Das ist eine Sammlung von Eindrücken der Tage ab dem Flugzeugunglück des polnischen Präsidenten. Ohne abschließende Bewertung, denn ich weiß immer noch nicht, was ich von der Reaktion halten soll.
Samstag
Zuerst dachte ich, man macht Witze mit mir, in der Annahme der Ausländer wäre leichtgläubig. Am Morgen war ich aus dem Haus gegangen, ohne Nachrichten zu gucken. Beim Durchblättern der Zeitungen am Bahnhof fragte mich die Verkäuferin, ob ich Informationen zum Flugzeug suche. Erst da erfuhr ich: der Präsident ist tot. Keine Überlebenden.
Dann lasen wir die Zeitung, die noch am Vortag geschrieben worden waren, und sahen, wer da alles mit drin war. Die Frau des Präsidenten. Die Chefs der wichtigsten Institutionen und aus jedem wichtigen Ministerium. Die komplette Führung der Armee. So viele Geistliche der Katholiken, Protestanten, Orthodoxen. Über ein Dutzend unserer Abgeordneten. Zwei aus meinem Ausschuss, zwei aus dem einer anderen Praktikantin. Eine war in meiner ersten Ausschusssitzung und stellte ihr Projekt gegen die Diskriminierung von Frauen vor. Zum allerersten Mal tagt keine einzige Untersuchungskommision. Einmal aus Trauer, einmal weil einige der Untersuchungsabgeordneten tot sind. Zwei unserer vier stellvertretenden Parlamentsvorsitzenden. Genauso den Präsidenten der polnischen Gauckbehörde, der noch vor drei Wochen in einem Ausschuss bei uns saß. Und ausgerechnet die Angehörigen der ermordeten Offiziere.
Und das alles in Russland. Wieder in Russland. Wieder in Katyn. Quasi die gesamte konservative intellektuelle Elite in das gleiche Flugzeug gepackt und in einem Streich ausgelöscht. Darunter zwei von drei ernsthaften Präsidentschaftskandidaten, jetzt wo gerade der Wahlkampf losging. Und der übrig gebliebene ist auch noch Parlamentsvorsitzender und übernimmt somit laut Verfassung die Pflichten des Präsidenten. Des Präsidenten, mit dem seine Partei und der von ihr gestellte Premier massive Probleme hatten. Wie auch mit dem Chef der Gauckbehörde und der Zentralbank, die jetzt alle tot sind. Schon auf dem Busbahnhof höre ich die ersten Verschwörungen. Und die werden nicht aufhören. Zu viel Symbolik, zu viele Zufälle. Und es gibt genug Leute die es ohnehin glauben wollen.
Am Abend nach der Rückkehr aus Zelazowa Wola bin ich ins Warschauer Zentrum zum Präsidentenpalast gefahren. Inzwischen jedes Haus trauerbeflaggt. Die gesamte historische Straße Richtung Altstadt war bereits abgesperrt. Überall verkauften sofort Stände Blumen, Kerzen und Patriotismuszubehör. Und das auf keinen Fall zum Selbstkostenpreis. Die Lichter stehen entlang der gesamten Straße wie beim Tod des Papstes. Gratis Extrablätter der wichtigsten Zeitungen wurden verteilt von Pfadfindern und den Leuten der Zeitschrift Metro, unabhängig vom Herausgeber. Die Straße ist voll mit Leuten, einige tragen Fahnen über der Schulter wie Schlachtenbummler.
Und irgendwie schwankt das alles zwischen Trauerfeier und Volksfest. Allenthalben kommen einem fröhlich grinsende Leute entgegen, einige mit Döner, andere mit Eis. Kleinen Kinder werden auf die Schulter genommen, damit auch sie später sagen können, auch sie waren bereits dabei gewesen.
Auf dem Pilsudski-Platz steht um das große Kreuz, wo Johannes Paul II predigte, eine leise betende Gruppe Menschen. Eine Linie Kerzen führt zum Grab des Unbekannten Soldaten. Zurück am Palast des Präsidenten und dem Kulturministerium gegenüber steht eine große Menge. Gerade volljährige Wachen und lachende Pfadfinder sichern die Zugänge. Einige Stimmen krähen die Nationalhymne, aber so wirklich macht niemand mit. In der Menge hält ein Mann das bereits gedruckte Plakat in die bereitwillig filmenden Kameras, dass das genau das gleiche Komplott sei, wie beim Absturz von General Sikorski 1943, dessen Maschine von den bösen Briten manipuliert war, die ja ohnehin Polen verraten hatten, genau wie Frankreich und überhaupt die ganzen Welt.
Entlang der Straße Richtung Altstadt liegen die Ministerien und Arbeitsstätten einiger der Opfer. Vor den Toren jeweils ihr Bild, umgeben von Kerzen und Blumen. Etwas weiter eine Ausstellung zu den Opfern von Katyn. Jetzt wird man sagen, der ersten Opfer.
In den Kirchen Dauergebet, aber nicht mal jetzt machen die Leute ihre verdammten Handys aus.
Je näher man der Altstadt kommt, desto mehr wird es Samstagnacht business as usual. Drei breit grinsende Briten kommen mir entgegen, von weitem als solche erkennbar anhand ihres bulligen Aussehens und da sie nachts nur offene Poloshirts tragen, amüsiert aufgrund des Spektakels und auf dem Weg in die nächste Kneipe. Restaurants und Bars sind alle gut besetzt mit lachenden Menschen. Auf dem Rückweg die üblichen besoffenen Jugendlichen an den Haltestellen.
Sonntag
Am Sonntag sieht es schon anders aus. Der Sarg des Präsidenten wird nach Warschau geflogen und vom Flughafen in seinen Palast überführt. Die gesamte Strecke vom Vorort bis ins Zentrum ist schon Stunden vorher gesäumt von Menschen. So viele, dass ich nicht in die Kirche im Zentrum komme. Ich gehe in eine Alternative, aber dort ist im Gottesdienst erstaunlich wenig zu hören von der Katastrophe. Jedoch geht diesmal niemand gleich nach der Kommunion; bevor nicht am Ende Boże cóż Polskę zu Ende gesungen wurde, das Überlied katholischer polnischer Patrioten.
Um zwölf Uhr zwei Schweigeminuten. Ein paar Autos halten an, die meisten nicht.
Zurück im Wohnheim meint die Rezeptionistin, wenigstens weiß die Welt jetzt, was Katyn ist. Und wenn auch nur für ein paar Tage.
In der Presse Burgfrieden. Nur der ganz rechte Rand schert sich nicht mal um eine Anstandsfrist und eröffnet sofort das Feuer auf Russland.
Montag
Eine merkwürdige Stimmung herrscht im Sejm. Noch nie war es so still, selbst für eine Woche ohne Sitzungen. Alle Untersuchungskommissionen abgesagt. Mein Ausschuss hat zwei Abgeordnete verloren.
Dienstag
Der Sejm hält Trauersitzung. Das ganze Haus friert ein, als sich alles Personal um die Fernseher versammelt. Eine halbe Stunde bevor die Abgeordneten und Senatoren in Bussen zur Kathedrale fahren. Und Jaroslaw Kaczynski steht da wie ein Häufchen Elend. Allein in seiner Bank, auf den anderen beiden Stühlen liegen schwarzgerandete Fotos und Blumen. Und seine alte Mutter ist seit einem Monat im Krankenhaus in "sehr ernstem" Zustand, und weiß noch von nichts.
Jeden Tag stehen Menschen an der Strasse vor meinem Fenster, wo die Särge vom Flughafen überführt werden. Jeden Tag weniger.
Auch die bürgerliche konservative Rechte bringt die ersten suggestiven Artikel. Ob die Regierungspartei nicht die Situation ausnutzt und den gesamten Staat übernimmt. Konservative verfolgt und um Orden betrügt. Ob den russischen Untersuchungsexperten zu trauen ist? Frage, warum so viele Menschen um Kaczynski trauern (von den anderen Opfern ist weniger zu hören) wo er doch angeblich so unbeliebt war. Auf den Gedanken, dass man trotz anderer politischer Meinung jemanden nicht zwangsläufig den Tod wünscht, kommt man nicht. Antwort: die Leute schämen sich, dass sie Kaczynskis Genie nicht schon vorher erkannt hätten.
Mittwoch
Staatstrauer bis Sonntag. Sejm weiterhin still. Im Büro läuft ständig der Fernseher. Unablässig Erinnerungen und Lebensläufe zu kitschiger Musik. Die Zeitungen über 30 Seiten voller Traueranzeigen. Sogar die großen Plasmawerbeschirme der Firmen auf den Straßen bringen Patriotismus und Trauer. Immer mit dem Firmennamen in einer Ecke.
Hinter vorgehaltener Hand sind sich Freunde einig, dass es langsam genug ist mit der Trauer. Das die Hälfte der Leute vor dem Palast Trauertouristen sind. Das das mit der Elite der Republik einigen guten Willen und Mitgefühl benötigt.
Das Fernseher bringt die unwahrscheinlichsten Analysen und Berichte. Man darf über nichts anderes berichten, aber es ist schwer, so 24 Stunden zu füllen.
Sogar die Satirezeitschrift Angora bringt auf ihrer Comicseite Bilder von Maria Kaczynska.
Jeden Tag weitere Überführungsprozessionen vom Flughafen entlang meines Wohnheims.
Donnerstag
Kasia, meine Tandempartnerin aus Lodz, bittet mich telefonisch, für sie eine Kerze vor dem Präsidentenpalast anzuzünden, und ich stelle eine von mir dazu.
Freitag
Immer noch stehen Leute bis zu 18 Stunden vor dem Präsidentenpalast um sich zu vom Präsidentenpaar zu verabschieden.
Weiter täglich neue Särge aus Russland, Ehrengarde, Priester reden, der Premier redet, Familien weinen.
Sonntag
Ich bin in Lodz, in Warschau beginnen die Begräbnisse. Um zwölf Uhr heulen einmal mehr die Sirenen. Die Straßenbahn hält mit laufenden eigenen Sirenen an. Im ersten Wagen stehen die Leute, im zweiten nicht.
Massen auf Messen in Warschau und Krakau. Die arme Familie Kaczynski kommt nicht raus aus Gottesdiensten für Tote.
Mit Kasia in der Kirche, wieder kaum eine Erwähnung, nur theologische Probleme. Wer sagt die katholische Kirche hätte den Bezug zum Alltag verloren?
Montag
Kaczorowski in der Warschauer Kathedrale beigesetzt. Weiter Begräbnisse, aber die Staatstrauer ist vorbei, immer weniger Zuschauer.
Sitzungswoche im Sejm verschoben.