Ein Mitternachtsspaziergang mit… Nicolas Chenivesse
Ein junger französischer Künstler im Interview.
Soundtrack zum Artikel: https://www.youtube.com/watch?v=Yod9tQdibDY&index=1&list=PLTNZF3CguEwwATOlrUuvxX14dYM3zjkga
Es ist eine laue Sommernacht, als wir leise, um niemanden zu wecken im Mondschein auf die Veranda treten. Selbst in kurzer Hose ist es noch angenehm warm. Um uns herum Stille. Nur das Zirpen der Grillen ist zu hören.
Gerade haben wir noch eifrig an einer Graffitischablone gebastelt. Eine Puppe und ein Halbkreis – „sieht aus wie eine Schildkröte!“. Darunter der Slogan „My Love is Underground“. Das Motiv kann es kaum erwarten, in einem 2000 Seelen Dorf nahe der Stadt Lyon auf Garagen und warmem Asphalt vervielfältigt zu werden.
Langsam wandern wir die Serpentinen durch die hügelige Landschaft. Auf der anderen Seite die Lichter und der Kirchturm des Dorfes, in der Ferne die Scheinwerfer eines Autos. Aus Nicolas‘ Musikbox tönen leise Gitarrenklänge von Darkside, ein Musikprojekt des IDM Experimentalisten Nicolas Jaar und dem Gitarristen Dave Harrington. Tausende schwitzende Menschen eng aneinander gepresst in einer dunklen Fabrikhalle. Auf Lyons größtem Technofestival. Ein beeindruckendes Erlebnis. Hier in der Einöde wirkt es aber viel gruseliger.
Wir laufen über eine kleine Brücke über einen Bach im Tal. „Hier habe ich einmal ein merkwürdiges Erlebnis gehabt“, erzählt Nicolas. „Eine Gruppe von Kindern ist hier in der Nacht entlanggelaufen, in weißer Kleidung. Sie haben ein Lied gesungen, ihre Gesichter waren dabei komplett ausdruckslos.“
Unser Ziel ist ein altes, verlassenes Haus auf dem gegenüberliegenden Hügel. Es ist architektonisch schön, der Efeu rankt aber bereits an den Wänden hoch. Trotz der schönen Lage, schaffen es die Besitzer nicht mehr das Haus zu verkaufen. „Ich habe meine Großmutter gefragt, wieso niemand dort wohnt. Dann hat sie es mir erzählt“. Das Haus wurde mehrmals bewohnt. Allerdings wurden dessen Bewohner immer nach einer Weile depressiv und begingen Selbstmord. Langsam beginne ich mich zu gruseln.
Nico gesteht mir offen, dass er an Transzendenz, an übernatürliche Ereignisse glaubt. Für ihn ist dieses Gefühl sogar allgegenwärtig. Er spürt die Aura verschiedener Orte. An manchen Orten ist diese positiv, an anderen Orten fühlt er sich unwohl und bekommt schnupfen. Mitten im Sommer. Bis er weiterreist.
Kaleidoskopiyan: Einmal sind wir zusammen in ein altes leerstehendes Haus in Lyon eingebrochen um Fotos zu machen. Jetzt hast du für ein Musikvideo in einem alten, verlassenem Haus in Saint Donat gedreht. Was fasziniert dich an diesen Orten?
Nicolas Chenivesse: Für mich sind verlassene Häuser eine große Geschichte, dort findet man immer das Gefühl, dass zahlreiche Personen diesen Ort entwickelt und geprägt haben. Und nun ist nichts mehr übrig, die Zeit macht seine Arbeit, die Natur erobert zurück, was ihr gehört. Diese Häuser sind für mich Orte der Ruhe, der Heilung und der Inspiration.
Nicolas' Musikvideo für Brutu: https://www.youtube.com/watch?v=NwgyU7pCRFs
Brutu ist ein Duo aus Lyon. Sie produzieren Acid Techno, den sie mit Analoggeräten ausschließlich live performen.
K: Du sagst, dass du an übernatürliche Ereignisse glaubst. Ereignisse, die man nicht erklären kann. Viele deiner Werke wirken auf mich auch gruselig. Wie beeinflusst deine Ansicht deine Kunst?
NC: Ich benutze alle kreativen Prozesse und Expression unter Verwendung aller psychischen Kräfte (Automatismen, Träume, Unterbewusstsein) frei von der Kontrolle durch die Vernunft. Ob es gruselig ist weiß ich nicht, aber ich mag das Experimentelle bis zum Unbehaglichen.
K: Du hast schon als du sehr jung warst angefangen, zu fotografieren, Fotoshootings zu arrangieren und Klaviere umzubauen. Was denkst du heute über deine erste Arbeit? Hat sich dein Stil verändert?
NC: Ich denke, dass Fotographie die beste Möglichkeit ist um eine Realität darzustellen. Zurzeit arbeite ich zusammen mit einer bekannten Fotografin (Beatrice Darnal), unsere Welten liegen nah aneinander. Was die Klaviere betrifft ist es etwas anders. Die Zeit fehlt. In meiner letzten Arbeit habe ich eine andere Herangehensweise an das Instrument verwendet. Ich wollte den Körper des Klaviers verändern während die Hauptfunktion… naja, ich sage jetzt nichts mehr!
K: Du hast auch schon Aufträge bekommen als Künstler. Zum Beispiel von einem Schuhladen. Denkst du, dass du in deiner Kreativität eingeschränkt bist, wenn du einen Kunden hast?
NC: Eingeschränkt denke ich werde ich nicht. Wenn ich einen Auftrag erhalte treffe ich mich als erstes mit meinem Partner in einem Café um ihn besser kennenzulernen. Wenn nicht genug Zeit ist passiert alles via E-Mail oder soziale Netzwerke. Aber ich bevorzuge den persönlichen Kontakt. Wenn sich jemand an mich wendet, dann weil sich diese Person in meine Arbeit interessiert. Das gibt mir Selbstvertrauen für meine Entscheidungen und Vorschläge.
K: Kunst ist auch ein Spekulationsobjekt auf dem Markt – manche Menschen geben Millionen Euro für ein Werk aus. Du selbst hast alte Puppen verwendet, 10 Minuten daran gearbeitet und sie für 30-60 Euro weiterverkauft. Findest du die hohen Preise für Kunstwerke gerechtfertigt oder absurd? Warum?
NC: Der Kunstmarkt ist eine ganz spezielle Welt und ich befürworte die Idee, dass der Preis der Kunst nicht an seine Herstellungskosten gebunden ist. Die Puppen waren für mich eine sehr schöne Erfahrung, weil es eine freie Arbeit ist. Das heißt, die Personen, die meine Puppen adoptieren sind frei darin über ihre Zukunft zu entscheiden. Eine Näherin hat eine der Puppen adoptiert um ihre Nähnadeln reinzustecken! Dass ist es, was ich an dem Projekt amüsant finde.
K: Sicher bekommst du auch von anderen Menschen ein Feedback für deine Werke. Gibt es auch Menschen, die deine Kunst nicht verstehen oder nicht gut finden?
NC: Ich habe Menschen getroffen, die sich mit meiner Kunst nicht identifizieren konnten. Ich respektiere deren Ideen und schätze den Dialog. Aber die Frage ob etwas hässlich oder schön ist, ist irrelevant, dafür ist in der Kunst kein Platz! Man kann ein Kunstwerk wertschätzen, aber man kann nicht sagen es sei schön oder hässlich, weil das ein subjektives Empfinden von jedem ist.
K: Du hast lange Zeit in einem kleinen Dorf in Frankreich gelebt. Auf der anderen Seite bist du gerne in Lyon unterwegs. Welcher Ort ist für dich inspirierender?
NC: Beide Orte sind für mich inspirierend, die Atmosphären verschieden. In der Stadt trifft man auf Tausende Menschen mit einer einzigartigen Geschichte, auf dem Land sieht man wie die Menschen alt werden, jeder kennt jeden.
Ich bin erleichtert, als wir Nicolas‘ lichtdurchflutetes Haus erreichen. Die letzte Stunde ist an mir nicht spurlos vorbeigezogen. Sie war fantasievoll, gruselig und märchenhaft. Ich hatte das Gefühl, für einen Moment Nicos Inspiration zu spüren und in seine Phantasiewelt einzutauchen.
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