Ein Leben im finnischen Nirgendwo
Egu ist einer von vielen Finnen, der Mitten im Nirgendwo der finnischen Wälder aufgewachsen ist. Ich habe mit ihm darüber geredet wie schwer und gleichzeitig schön seine Zeit dort war.
Die Fläche von Finnland ist beinahe so groß wie die Deutschlands, mit dem Unterschied, dass sie von nur 5,3 Mio. anstatt von 82 Mio. Einwohnern besiedelt wird. Finnen haben also viel Freiraum um sich genügend Privatsphäre und Ruhe zu schaffen – sie können einfach, weg von der Zivilisation, in der einsamen Natur leben.
So wie mein Mitschüler und Freund Egu zum Beispiel. Er ist ein Schüler an der Hochschule für Theater und Musik in Paimio, an der ich gerade mein Freiwilliges Jahr verbringe. Da die Schüler und ich in Häusern direkt neben der Schule wohnen, sehen wir uns auch oft in der Freizeit. Letztes Wochenende haben wir uns zufällig über unsere Heimatsorte unterhalten und seine Wohnlage ist für mich, als Deutsche, kaum vorstellbar.
Denn er ist mit seinen 3 Schwestern und Eltern in Pöytyä, einem Ort mit nur 11 Einwohnern pro Quadratkilometer, zwischen Bäumen aufgewachsen. Einen Nachbarschaftsstreit braucht er nie zu befürchten, da das nächste Haus 1 km weit entfernt war. Und zum Einkaufen musste seine Familie entweder 5 km zum „Siwa“, der einem gut ausgestattetem Tankstellenladen gleicht, fahren, da der nächste Supermarkt 50 km weit entfernt war. Als Egu noch in der Grundschule war, gab es keinen Bus der ihn in die Schule brachte. Aber die Kinder in Finnland, die an so abgelegenen Orten wohnen, werden von sogenannten Schultaxis abgeholt und in die Schule gefahren. Das Prinzip ist wie beim Bus, außer, dass das Gefährt kein Bus sondern ein Auto ist und, dass die Fahrtrouten an die Wohnorte der Kinder angepasst werden.
Natürlich wurde es Egu auch oft langweilig, weil er für jede Fahrt auf seine Eltern oder dem Fahrrad angewiesen war. Dieses Transportproblem war auch der Grund dafür, dass er nicht wirklich eine Chance hatte ein Hobby z.B. im Fußballverein zu finden, da seine Eltern sonst nur damit beschäftigt gewesen wären ihre vier Kinder von A nach B zu fahren. Für ihn war es auch deswegen schwer dort zu wohnen, da er in seinem Umfeld keinen gefunden hat, mit dem er sich anfreunden konnte.
Allerdings wiegen die positiven Erinnerung an seine Kindheit und Jugend im Wald den negativen vor. Zum Beispiel konnten er und seine Geschwister ungestört draußen Fußball und Basketball spielen und Lärm machen; für die Hunde gab es viel Auslauf und mit seinem Pferd konnte er durch Wald und Felder reiten. Besonders schön war es nachts, da der Sternenhimmel von keinem Stadtlicht behindert wurde. Egu erzählt Geschichten, wie er manchmal im Winter mit seinen Geschwistern in die Sauna ging und anschließend nackt im Garten herum rannte. Oder einmal hat er ein Live-Rollenspiel bei sich daheim organisiert und bei diesem Rollenspiel haben die Spieler ihre Charaktere mit verrückten Verkleidungen, Spielgewehren und Messern verkörpert. Oder im Winter haben seine Geschwister und er einen Schlitten an ihr Moped gehängt und sich dann darauf durch den Wald ziehen lassen. Wo sonst, außer im Wald, wären solche verrückten Aktionen schon möglich gewesen?
Im Gespräch ist mir aufgefallen, dass Egu vielleicht nicht so viele soziale Kontakte hatte, wie wir es vom Leben im Dorf oder in der Stadt gewohnt sind, allerdings scheint genau dadurch seine Bindung an die Familie besonders stark und bedeutend zu sein. Und auch wenn er einmal ein Haus und Familie gründen sollte, soll das an einem abgelegenen Fleckchen, aber nicht ganz so einsamen wie früher, passieren.