Ein Jahr als Norwegerin in Sachsen
Was macht man eigentlich nach zwölf langen Jahren in der Schule? Studieren will man nicht, und zu arbeiten hat man eigentlich auch keine Lust. Wegfahren irgendwie irgendwo, das lockt und fristet, aber wie?
Was macht man nach zwölf langen Jahren in der Schule? Studieren will man nicht und zum Arbeiten hat man auch keine Lust. Wegfahren irgendwie irgendwo, das lockt, aber wie? Da hatte ich zufällig ein Plakat in der Schule gesehen: Europäischer Freiwilligdienst (EFD) - sechs bis zwölf Monate irgendwo in den EU-Ländern, wohnen, arbeiten, leben. Einfach andersartig leben! Also habe ich mich nach Deutschland aufgemacht.
Ich habe mich für dieses Land entschieden, weil ich die Sprache lernen wollte. Denn wer kann Deutsch richtig gut nach ein paar Jahren in der Schule? Außerdem habe ich mehrmals Urlaub in Deutschland gemacht. Ich wollte lernen, wie es ist, da zu leben, zu wohnen und zu arbeiten.
Ich habe ein Projekt in Bautzen, Sachsen, gefunden, und sollte da in einem Jugendklub arbeiten. Da aber einige Probleme entstanden sind, wurde ich stattdessen fix nach Wurzen in Sachsen geschickt. Als ich am Leipzig-Halle-Flughafen ankam, wusste ich nur, dass das Netzwerk für Demokratische Kultur (NDK) gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Neonazismus arbeitet und das irgendein (eine??) Ingo mich abholen sollte.
Das war der Anfang eines sehr spannenden Halbjahres voll von Herausforderungen, Überraschungen, Niederlagen, Enttäuschungen, Erfahrungen und Spaß!
Dazu müssen Freiwillige auch bereit sein. Man darf nicht erwarten, dass alles für dich gemacht und zurechtgelegt wird. Man muss selbst Initiative und Engagement zeigen, die Gelegenheit beim Schopf fassen. Das bedeutet: lieber Lächeln und Mitmachen als sich über komisches oder eigenartiges Benehmen in dem neuen Land beschweren,
Ich hatte Glück. Mein Projekt war spitze! Meine Freunde und Kollegen waren alle zwischen 18 und 35 Jahre, die meisten so um die 25 Jahre alt. Das NDK hat drei Hauptamtliche, um die 20 Ehrenamtliche und zwei Freiwillige. Ich arbeitete im Kulturbereich und habe ein Kino aufgebaut (ganz physisch mit Hammer und Nagel sowie mehr praktisch), Konzerte arrangiert und Lesungen organisiert, an Bildungsreisen teilgenommen, Seminare und Workshops in Schulen geleitet.
Das Kinoprojekt bedeutete Programme erstellen und Filme zeigen. Ich arbeitete mit dem Landesfilmdienst in Sachsen eng zusammen und habe viel telefonieren, Termine machen, den Verleih von Technik organisieren und Filme besorgen müssen. Am Anfang hatte ich Riesenangst: die Deutschen sind ja so starr und korrekt, und ich müsste ja richtig höflich sein! Ich brauchte aber keine Angst zu haben. Ich habe fast ausschließlich nur wirklich nette, liebe Leute getroffen, die wirklich verständnisvoll waren als ich stotterig und holprig meine Fragen stellte oder Bescheide gab.
Als EFD-Freiwillige musste ich an Seminaren teilnehmen. In Februar war ich zwei Wochen in Köln, wo ich über die Geschichte Deutschlands und auch soziale und kulturelle Besonderheiten des Landes lernen sollte. Freiwillige aus ganz Europa waren da, und ich habe mich nie früher so europäisch gefühlt. Trotz großer kultureller und sozialer Unterschiede waren wir alle auf demselben Grund in Deutschland, auf Grund des EFD, und wir haben uns einfach anpassen müssen. Mit meinen neuen Freunden habe ich das vollständige Chaos und den Spaß der Weiberfastnacht erlebt, die Gestapo-Gebäude in Köln gesehen und ein europäisches Fest mit den unterschiedlichsten Gerichten gestaltet. Ich werde das nie vergessen!
Ein kleines Mädchen ist nach Wurzen gefahren, zurückgekommen ist eine bereiste und selbständigere Frau. Ich habe keinen sechsmonatigen Urlaub gemacht, so wie viele denken. Ich bin jeden Morgen zur Arbeit gegangen, habe die Katze im Nachbarhaus gegrüßt, dem Bäcker zugewinkt, als ich vorbei lief, und die Zeitungen gelesen. Ich bin nach Leipzig gefahren, um an einem Sprachkurs teilzunehmen, Tango zu tanzen und Rugby zu spielen, und ich habe Freunde gefunden, mit denen ich in der Freizeit fast immer unterwegs war.
Ich habe an der Leipziger Buchmesse teilgenommen, wo ich Günther Grass und Henning Mankell getroffen habe. Ich war in Berlin bei den Ökumenischen Kirchentagen, wo ich mit Wolfgang Thierse und anderen Bundestagabgeordneten gesprochen habe, und auf der Bildungsreise „STASI Intern“ habe ich mit Zeitzeugnisse gesprochen, die in der DDR das Überwachungssystem psychisch und physisch erlebt haben (und ganz Mitteldeutschland haben mich im Fernsehen sehen können!).