Ein halbes Jahr danach
Hanne Detel, 1. Platz
„And I-ei-ei will always love you-uuuuu.....“, schallt es blechern durch das ganze Dorf. Bis in den letzten Winkel, bis zum letzten noch so abgelegenen Haus dringt Whitney Hustons Stimme. Und das am Samstag um 8.30 Uhr morgens, wenn jeder gesunde Mensch eigentlich ausschlafen möchte. Nicht jedoch die Bewohner von Tovarné, einem kleinen slowakischen Dorf, das an der rege befahrenen Straße zwischen den beiden beschaulichen Städten Vranov nad Toplou und Humenné, liegt. Hier schläft man samstags nicht genüsslich aus, denn samstags wird gearbeitet: auf dem Feld, im und um das Haus... es gibt immer genug zu tun. Schuld an der morgendlichen Störung ist das – wie ich es nenne – „Dorfradio“: in jeder Straße gibt es an mehreren morsch aussehenden hölzernen Pfählen befestigte Lautsprecher, die die „Dorfnews“ verbreiten. Diesen Samstag wird zum Beispiel, von moderner Musik unterbrochen, mindestens dreimal wiederholt, dass ein fahrender Händler neben der Dorfkneipe billige – das heißt für uns aus Deutschland: spottbillige- in Asien hergestellte Klamotten verkaufen wird. Das „Dorfradio“ ist ein Überbleibsel aus der Zeit des Kommunismus, in der jeder das gleiche Recht auf alles haben sollte – scheinbar auch auf unerwünschte Beschallung am frühen Morgen. Mir hilft da nur, mit dem Kopf nicht auf, sondern unter meinem Kopfkissen weiter zu schlafen. Und dieses kleine Dorf namens Tovarné, das ich während meines Europäischen Freiwilligendienstes besser kennen gelernt habe, als ich es je für möglich gehalten hätte, ist seit dem 1. Mai 2004 Teil der Europäischen Union und nicht einmal 40 Kilometer von der neuen östlichsten Grenze der Europäischen Union entfernt. Ich hatte in den zehn Monaten meiner Arbeit für die Grundschule des Dorfes, für Menschen aus der Gemeinde sowie der umliegenden Gemeinden die Chance, viele interessante Menschen kennen zu lernen. Ich sprach mit einigen von ihnen über ihre Hoffnungen und Ängste bezüglich des Beitritts zur Europäische Union, aber auch über Vor- und Nachteile, die sie schon jetzt – nach einem halben Jahr – zu spüren bekommen haben. Vorstellen möchte ich Euch sieben junge Menschen und deren Sichtweise zum Eintritt in die Europäische Union: Ada, Lubo, Mato, Tonka, Matúš, Slavka und Alena.
“Wann tritt die Slowakei der EU bei? - a) am 1. Mai, b) am 31. April oder c) am 1. Juni 2004.” Ohne Zögern wählen die Erstklässler beim monatlichen Quiz in der Grundschule Tovarné die Antwort a. Über den EU-Beitritt wissen hier sogar schon die ganz Kleinen Bescheid. Dieses Wissen ist unter anderem der Verdienst meiner Kollegin Ada. Sie ist 30 Jahre alt und von Beruf Erzieherin. Ihr Alltag ist stressig. Vormittags arbeitet sie im Kindergarten, nachmittags im sogenannten Schulclub (Nachmittagsbetreuung für Kinder berufstätiger Eltern) und zusätzlich engagiert sich die junge Frau ganz besonders: ohne Bezahlung leitet sie in ihrer freien Zeit Tanzklubs. Verdienst dafür sind “nur” die Erfolge bei Wettbewerben. Außerdem kann sie so ihren beiden Töchtern Andrejka und Viktorka, die von klein auf tanzen, eine Freizeitmöglichkeit bieten, die sonst in einem kleinen Dorf wie Tovarné rar ist. Adas Leben ist nicht leicht. Wie für viele Frauen auf dem Land hat sie früh geheiratet und zwei Töchter bekommen. Obwohl Ada und ihr Mann Jozef viel arbeiten, reicht das Geld gerade so zum Leben. Ada verdient ca. 8 000 SK im Monat – das sind ca. 200 €. In der Slowakei sind zwar die meisten Dinge deutlich billiger als in Deutschland. Technische Geräte, Benzin, Markenartikel, etc. sind jedoch fast genauso teuer wie hier. Was sich durch den Beitritt der EU geändert hat? “Die Grundnahrungsmittelpreise”, antwortet Ada sofort. Die sind nämlich fast um das Doppelte angestiegen. Dabei sind die Löhne jedoch eher gesunken als gestiegen. Doch Ada sieht nicht nur Negatives am Beitritt zur Europäischen Union. Denn wir versuchen gemeinsam für das kommende Jahr einen Besuch der Tanzgruppe nach Deutschland zu organisieren. Genauer: es soll eine Jugendbegegnung werden, bei der sich die jungen slowakischen und deutschen Tänzer näher kommen sollen, indem sie einen gemeinsamen Tanz einstudieren. Das Projekt soll von der Europäischen Union gefördert werden. Bei der Diskussion mit Ada über das Vorhaben merke ich immer wieder, wie sehr sie sich und ihre Fähigkeiten unterschätzt. “Ich bin noch nie richtig aus Tovarné herausgekommen. Nur einmal war ich in Prag, um meine Cousine zu besuchen. Wie soll ich da eine ganze Gruppe von Kindern noch weiter – bis nach Deutschland – bringen? Auch die meisten Kinder waren nicht weiter, als im nahen Polen zum billig Einkaufen. Wir sagen immer: Früher (während des Kommunismus) konnten wir wegen des eisernen Vorhangs keine weiten Reisen (in den Westen) machen – heute fehlt uns das Geld dazu! Außerdem habe ich noch nie einen Projektantrag geschrieben, um Geld von der Europäischen Union zu beantragen!“ Doch Ada ist mutiger als viele in ihrem Dorf und wird versuchen, das was sie sich in den Kopf gesetzt hat, durchzusetzen – nicht für sich, sondern für die Kinder!
Mich hüllt eine Wolke von Pommes- und Wurstgeruch ein. Vor dem Kiosk, von dem die Wolke kommt, steht eine lange Schlange mit wartenden, nur mit Badehose oder Bikini bekleideten Menschen. Alle wollen ihren Heißhunger mit einer Portion Currywurst oder einem Hamburger stillen. Hier also – im Strandbad von Konstanz – arbeitet Lubo. Er ist nicht der Einzige aus Mitteleuropa. Außer ihm arbeiten noch sechs andere Tschechen und Slowaken in diesem Kiosk. „Wir sind für den Besitzer des Kiosks nur billige Arbeitskräfte. Aber für uns ist der Lohn trotzdem ziemlich hoch.“ Der 22-jährige Lubo ist gelernter Koch. Doch wie die meisten jungen Menschen im Osten der Slowakei konnte er nach dem Schulabschluss keine Arbeit finden. Weil er in der Schule einigermaßen gut Deutsch gelernt hat, bekam er über einen Bekannten die Stelle in Konstanz. Aber Zukunft hat er hier auch keine – die Stelle ist auf die Sommermonate, während denen das Strandbad geöffnet ist, beschränkt. Auf die Frage hin, was der EU-Beitritt für seine Arbeit in Deutschland bedeute, erklärt Lubo mir: „Viele Deutsche haben Angst, dass wir seit dem 1. Mai unbeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt hätten. Aber das stimmt nicht! Außer Zypern und Malta müssen alle Länder bis zu sieben Jahre auf die volle Freizügigkeit warten!“ Ein Mitarbeiter der Agentur für Arbeit informiert mich genauer: „Wie bisher können Arbeitnehmer aus den betroffenen Staaten nur unter bestimmten Voraussetzungen, beispielsweise im Rahmen von Werkverträgen, mit der Green Card für Computer-Spezialisten oder als Saisonkräfte in Deutschland eine Arbeit aufnehmen. Die Voraussetzungen und Verfahren, um eine Arbeitsgenehmigung zu bekommen, ändern sich mit der Erweiterung nicht. Zum Teil wird es den neuen EU-Bürgern allerdings künftig erleichtert, eine unbefristete Arbeitsgenehmigung zu bekommen: Hätten sie bereits im Rahmen einer Beschäftigung als Gastarbeitnehmer für 12 Monate eine Zulassung zum deutschen Arbeitsmarkt, können sie jetzt eine unbefristete und unbeschränkte Arbeitsgenehmigung erhalten. Gleiches gilt unter bestimmten Voraussetzungen auch für ihre Familienangehörige. Außerdem werden Arbeitskräfte aus den Beitrittsländern gegenüber solchen aus Drittstaaten beim Zugang auf den deutschen Arbeitsmarkt bevorzugt.“
Mato ist Schüler in der Grundschule Tovarné. Hier in der Region ist er einer der Wenigen, die der Volksgruppe der Ruthenen angehört. „Meine meisten Verwandten wohnen rund um Svidník.“, erzählte er mir einmal. Die Stadt Svidník liegt im Nordosten der Slowakei nahe des Drei-Länder-Ecks, wo Polen, die Ukraine und die Slowakei aufeinander stoßen. Die Ruthenen, sprachlich den Ukrainern verwandt, sind eine ostslawische Ethnie. Es wird behauptet, dass sie fast zwei Millionen Menschen zählen. Der Großteil von ihnen lebt in einem Verwaltungsbezirk der Ukraine, der offiziell Kapato-Ukraine heißt, mit Užgorod eine echte Metropole hat und gleich hinter der slowakischen Grenze beginnt. Außer in der Slowakei finden sich heute in Polen, Ungarn, Rumänien und der serbischen Vojvodina zahlreiche ruthenische Gemeinden, nicht zu reden von den USA, wo viele Ruthenen-Nachkommen leben. Der berühmteste von ihnen ist wohl der Pop Art- Künstler Andy Warhol, dessen Eltern aus einem kleinen Dorf im Nordosten der Slowakei stammen. Mato gehört als Ruthene zu den Verlierern der Osterweiterung der EU. Denn die slowakischen und ukrainischen Ruthenen verlieren das 1989 gerade wiedergewonnene Recht auf kulturellen Austausch. Seit dem Zusammenbruch des Sozialismus konnten sich Ruthenen wieder in Kulturvereinen organisieren und es entstand ein reger Austausch. Ruthenische Volkstanzgruppen aus der Slowakei fuhren ungehindert nach Užgorod, um dort ihr Können zu präsentieren. Oder Ruthenen aus der Ukraine kamen in die Slowakei, um zusammen mit dort lebenden Verwandten eine Hochzeit zu feiern. Doch das alles ist nun nicht mehr so einfach möglich, denn mit dem EU-Beitritt ist die Ostgrenze der Slowakei zur neuen Ostgrenze des Gebiets der Europäischen Union geworden. Und diese ist für die meisten Menschen aus so einem armen Land wie die Ukraine unüberwindlich!
Tonka ist mal wieder im Stress. Die Organisation aus Polen hat sich immer noch nicht gemeldet, obwohl die Unterschrift des Vorsitzenden schon längst unter dem Antrag stehen sollte. Einer der Texte muss noch ins Englische übersetzt werden- da wollte Miloš helfen, aber der ist noch nicht hier, obwohl er schon vor zwei Stunden kommen wollte. Tonka arbeitet neben ihrem Management-Studium als Freiwillige im Jugendinformationsbüro in Humenné, der nächsten größeren Stadt nahe Tovarné. Zusammen mit der festangestellten Darina informiert sie Jugendliche über die Möglichkeiten, die das von der Europäischen Kommission geförderte Programm JUGEND bietet. Beispiele dafür sind der Europäische Freiwilligendienst oder Jugendbegegnungen. Außerdem organisieren die beiden mit Hilfe von anderen Freiwilligen Jugendbegegnungen mit Jugendlichen aus anderen europäischen Ländern oder nehmen mit Jugendgruppen an solchen teil. „Gerade schreiben wir den Antrag für ein ganz großes Projekt: Wir wollen eine Jugendbegegnung mit Jugendlichen aus sechs europäischen Ländern auf die Beine stellen. Das Thema wird ‚Drogen’ sein“, erklärt mir Tonka mit begeistertem Gesicht. Für sie sind die guten Seiten des EU-Beitritts schon lange bekannt. „Die Veränderungen haben ja nicht erst seit dem 1. Mai angefangen, sondern schon viel früher. Nämlich zu dem Zeitpunkt als unser Land Beitrittskandidat wurde. Der 1. Mai war nicht ein Datum, an dem sich mit einem Mal alles verändern würde, sondern alles ist ein Prozess, der Zeit braucht!“
Nachdem ich mit Matúš das erste Mal geredet habe, ist mir gleich klar: das ist einer von denen! Vor dieser Art junger „Tovarnianern“ haben mich meine Kolleginnen in der Schule gewarnt. Warum? Dem Dorfgespräch zu Folge gehört er zu der Clique von hauptsächlich jungen Männern, die viel Alkohol trinken, Marihuana rauchen und jede Frau abschleppen wollen. Na ja, ich finde ihn eigentlich eher harmlos. Vielleicht, weil ich einige solche Typen auch in Deutschland kenne. Matúš ist 21 Jahre alt, hat zwei ältere Brüder – den einen, Lubo, kennt Ihr schon – und hat, wie sein Bruder und die allermeisten jungen Menschen in Tovarné, keinen geregelten Job. „Ich arbeite nur im Winter. Im Sommer kann ich nicht arbeiten, da mache ich Party“, erzählt er mir mit einem fast stolzen Gesicht. Dafür muss er aber auch flexibel und mobil sein. „ Den letzten Job hatte ich in Prag – dort habe ich alte Drucker auseinander geschraubt, gereinigt und wieder zusammen gesetzt. Sie wurden dann wieder als neu verkauft.“ Genommen wurde er dort, weil er die Elektronikerschule besucht hat. In der Slowakei kann man nach der neunten Klasse wählen, welche Art Schule man besuchen will. Es gibt neben allgemeinen Gymnasien Schneiderschulen, Hotelschulen, Technikerschulen usw. Nach dem Maturita, das dem allgemeinen Abitur entspricht und an jeder dieser Schularten erreicht werden kann, hat Matúš ein Jahr Militärdienst leisten müssen. „Danach hatte ich erst einmal keine richtige Lust zu studieren und habe angefangen zu jobben. Außerdem ist es gar nicht so einfach, einen Studienplatz zu bekommen. Grund dafür sind die von den Unis gestellten Prüfungen, die man vorher bestehen muss. Und das ist total schwer!“ Viele Eltern haben auch nicht das Geld um für die Kosten, die während des Studiums für Zimmer, Verpflegung usw. anfallen, aufzukommen. Deshalb gehört Matúš zu dem Großteil der jungen Menschen im Osten der Slowakei, die entweder arbeitslos sind oder für sehr wenig Geld, ohne Sicherheiten und meist im Ausland jobben. Was für ihn der EU- Beitritt bedeutet? „Eigentlich interessiere ich mich einen Dreck für Politik! Und schon gar nicht für die Europäische Union. Ich glaube nicht, dass die irgendetwas in diesem kleinen Land ändern kann! Ich habe auch nicht gewählt, als neulich diese Europawahlen waren. Was sollen die paar Hansel aus unserem kleinen Land dort schon ausrichten?!“
Der Raum ist rappelvoll – voll mit schwarzhaarigen, meist dunkelhäutigen Roma, die feiern. Denn heute ist der Internationale Roma Tag. Die Menge, die zu Anfang noch schüchtern am Rand des Raums stand, tummelt sich jetzt tanzend, klatschend und jubelnd vor dem Podium. Es tanzen die Bacu¾ky, die fünfköpfige Roma-Tanzgruppe der Grundschule Tovarné, und die Menge ist begeistert. Denn wie die allermeisten Roma haben sie das Rhythmusgefühl im Blut! Als zwischen den Tanzdarbietungen die Moderatorin der Feier, Slavka, einen Quiz macht, in dem es einzig um ihr eigenes Volk geht, wundere ich mich. Denn so viel ist schon in Vergessenheit geraten. Zum Beispiel kommt erst nach langer Zeit jemand darauf, wie ihre Flagge aussieht und einige junge Roma können nicht einmal mehr auf ihrer Sprache, die ursprünglich keine Schriftsprache hatte, bis zehn zählen. „Schön ist das Zigeunerleben...“ Wer kennt dieses Lied nicht? Doch wer weiß, wie das Leben der Roma wirklich aussieht? Die Mädchen der Tanzgruppe leben im hintersten Winkel von Ondavské Matiašovce, einem Nachbardorf von Tovarné, in heruntergekommenen mehrstöckigen Wohnblöcken. Viele der Häuser besitzen keine Fenster mehr, weil offenes Feuer gemacht wird, und im Gebäude sind Mauern eingerissen, denn die Familienverbände leben dicht beieinander und man kennt keine Privatsphäre. Die Eltern von jeder der jungen Schülerinnen sind arbeitslos und leben von Sozialhilfe. Das erste Mal, als ich die Mädchen sah, konnte ich das garnicht glauben, denn sie hatten schöne Kleider an. Jetzt kenne ich sie jedoch länger und weiß ich, dass diese Kleider die einzigen Kleider sind, die sie besitzen. In Tovarné, wo die Mädchen zur Schule gehen, gibt es fast keine Roma mehr, sie sind dort unerwünscht. Denn wenn man dem Gerede vieler Menschen – leider oft auch gebildeter Leute wie beispielsweise Lehrern – glaubt, stinken, klauen und schnorren Roma, die auch „Schwarze“ genannt werden. Es ist für uns Deutsche wahrscheinlich unvorstellbar, aber es gibt innerhalb des Gebiets der Europäischen Union Slums. Slums, in denen Roma in heruntergekommenen, selbst gebauten Hütten leben, wo es kein fließend Wasser und oft keine Elektrizität gibt, wo Wucherer herrschen, die den Menschen das letzte Geld aus den Taschen ziehen, wo Kinder, die im kalten Winter nicht genug zum Anziehen haben und oft spezielle Förderschulen oder -klassen besuchen, im Dreck spielen... Slavka erklärt mir nach der Feier: „Beauftragte der Europäischen Union waren hier und haben sich angeschaut, in welchen schrecklichen Umständen die meisten von uns leben. Sie waren schockiert – mehr als schockiert, denn so etwas erwartet man von Afrika oder Südamerika, aber nicht von Europa! Deshalb fließen jetzt viele Gelder ins Land, um uns zu halten, wo wir sind. Denn niemand will uns im Westen haben!“ Doch wie werden die Gelder eingesetzt? Es gibt einige versuchte Integrationsprojekte, in denen es aber nur um die Anpassung der Roma an die restliche slowakische Bevölkerung geht. Wo bleibt dabei das Aufeinanderzugehen?
Plattenbau R? Hm, Alena hatte mir gesagt, das Gebäude würde ich gleich wiederfinden. Ich schaue mich um, aber alles sieht hier gleich aus! Lauter mausgraue, riesige Hochhäuser –mindestens zehn Stockwerke hoch, wenn nicht sogar höher. Auf dem am nächsten gelegenen der bestimmt 15 Gebäude dieser Siedlung erkenne ich ein riesiges M. Aha, jetzt habe ich das System durchschaut! Schnell entdecke ich dann auch die Platte R, wo ich bei Alena zum Mittagessen und zum anschließenden Slowakischunterricht eingeladen bin. Alena ist eine junge Englischlehrerin an der Grundschule in Tovarné und außerdem meine Tutorin. Als Einzige im Kollegium spricht sie eine Fremdsprache fließend, denn sie war während ihres Studiums immer wieder im Ausland: zweimal war sie während der Semesterferien als Au pair in England und ganz besonders schwärmt sie von ihrer Zeit in Schweden, wo sie im Rahmen des Socrates Programms ein halbes Jahr das Lehrersein getestet hat. Englischlehrerin ist sie nur geworden, weil sie nahe bei ihren Eltern, die nicht mehr die Jüngsten sind, bleiben wollte und es einfach war, die schlecht bezahlte Lehrerstelle zu bekommen, weil Fremdsprachenlehrer vor allem auf dem Land rar sind. Eigentlich hat sie höhere Ziele. Ihre weiteren Pläne sehen so aus: „Ich habe ein gutbezahltes Angebot von einer privaten Sprachschule bekommen. Im Zuge des EU-Beitritts möchten immer mehr Menschen Englisch lernen, weil das ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt vervielfacht. Auch ältere Menschen, die bis jetzt immer auf ihr Russisch setzten, sind jetzt am Englischen interessiert. Bis jetzt habe ich nebenher ab und zu Texte für Bekannte übersetzt. In der letzten Zeit kommen aber immer mehr Anfragen, sodass ich zu meinem niedrigen Gehalt ein Zubrot verdienen kann. Ich bin zwar keine staatlich geprüfte Übersetzerin, jedoch reicht das, wenn ich zum Beispiel für Organisationen Anträge auf EU-Fördermittel übersetzte. Und das kommt in der letzten Zeit immer öfter vor. Mein größter Traum ist es einen Aufbaustudiengang zu machen um staatlich geprüfte Übersetzerin zu werden!“
Ich war eigentlich immer überzeugt davon, dass die Osterweiterung der Europäischen Union eine gute Sache ist. Das bin ich immer noch, aber ich sehe nicht mehr alles durch eine rosarote Brille. Durch meine Zeit in Tovarné, in der ich viele verschiedene Menschen kennen gelernt und mit einigen von ihnen über den EU-Beitritt gesprochen habe, ist mir auf der einen Seite bewusst geworden, dass ein Fortschritt nicht immer ein Fortschritt für alle bedeutet, sondern wie im Fall vom Ruthene Mato auch ein Rückschritt sein kann. Auf der anderen Seite habe ich gelernt, dass das ganze Vorhaben nicht auf einmal verwirklicht werden kann, sondern ein Prozess ist, der viel Zeit braucht und brauchen wird!