Ein Freiwilligendienst in der Türkei?
Diese zweifelnde Frage musste ich vor meinem EVS in der Türkei häufig beantworten: Ist das nicht zu gefährlich? Warum willst du in die Türkei? Und da kann man einen europäischen Freiwlligendienst machen? Daher eine kleine Reflexion über das Format des europäischen Freiwilligendienstes, insbesondere in meinem Gastland, der Türkei
Nach den ersten Wochen in meinem Projekt und dem On-Arrival-Training, bei dem ich viele andere europäische Freiwillige in anderen Projekten treffen durfte, habe ich mir viele Gedanken über das Format EVS in der Türkei gemacht. Meine Entscheidung in die Türkei zu gehen wurde nicht von allen meinen Freunden und Bekannten positiv aufgenommen: Viele argumentieren, dass es zu gefährlich sei angesichts der aktuellen Sicherheitslage, ob ich denn mit meiner Arbeit hier die türkische Regierung unterstützen wolle und ob ich denn überhaupt Anschluss finden könnte, in so einer anderen, islamischen Kultur? Mittlerweile kann ich alle Bedenken widerlegen und finde persönlich, ein EVS in der Türkei ist eine einmalige Chance und mehr als empfehlenswert!
Es erscheint fast paradox, aber von der schwierigen Sicherheitslage bekommt man fast nichts mit: Die militärischen Auseinandersetzungen finden im Südosten der Türkei statt; in Istanbul, Ankara oder auch Gaziantep kann man ein völlig normales Leben ohne auch nur an die politischen Schwierigkeiten zu denken, führen. Das einzige, was einen ständig daran erinnert sind die Medien, wobei auch mehr deutsche Nachrichten als die nationalen türkischen. Mir ist auch wirklich aufgefallen, dass viele Türk*innen nicht viel über den Krieg im Südosten, vor allem in den kurdischen Gebieten, wissen - Sie leben ein ganz normales Großstadtleben und sind eher fokussiert auf ihre eigene Karriere. Zu diese Normalität gehören leider auch Terrorattacken, genau wie in anderen europäischen Städten auch: Ironischerweise bemerkt man, dass eine Terrorattacke stattgefunden hat, in der Regel daran, dass Facebook für ein paar Stunden gesperrt ist - Um eine große Panikwelle zu verhindern.
Die Frage, ob man damit die Politik unterstützt, habe ich mir im Vorfeld meines Freiwilligendienstes auch häufig gestellt: Immerhin arbeitet man für die Gesellschaft des Landes und natürlich will man auch nicht im Namen Europas missionieren, daher stößt man relativ schnell an seine Grenzen wenn es um interkulturellen Austausch geht: Ich möchte die EU und gerade Deutschland differenziert darstellen und selber die Türkei auch nicht nach europäischen Standards bewerten, aber mit dieser relativistischen Perspektive wird man auch sehr schnell handlungsunfähig. Trotzdem denke ich, dass es fatal wäre, jeden Kontakt zwischen Europa und der Türkei abzubrechen, gerade der Austausch zwischen jungen Menschen ist unglaublich wichtig und dazu trage ich meinen bescheidenen Teil bei.
Und zu der Erfahrung, die ein EVS in der Türkei mit sich bringt, kann ich nur sagen: Es ist eine unglaubliche Chance, nicht nur eine andere Kultur und Perspektive zu erfahren, es trägt auch einen Großteil dazu bei, Menschen türkischer Abstammung in Deutschland zu verstehen. Und das ist so wichtig im Kontext von gesellschaftlicher Integration! Gerade auch mehr über den Islam zu erfahren und einen „muslimischen Alltag“ zu leben, hat mir bereits so viel mehr Verständnis gegeben und genau diese Erfahrung könnte endlich einen offenen Dialog über den Islam in Deutschland initiieren. Die meisten Menschen nehmen einen so freundlich auf und bestätigen das Klischee der türkischen Gastfreundlichkeit, bereits wenn man ein paar Worte Türkisch spricht ist die Reaktion häufig überschwängliche Begeisterung. Ein Ausländer in der Türkei zu sein bringt viele Vorteile, Geschenke und angebotene Hilfe mit sich, aber man muss sich gefasst machen viele Fragen beantworten zu müssen: Sei es, warum man noch nicht verheiratet ist oder welcher deutsche Fussballspieler am besten spielt :D
Natürlich kann ich es nicht direkt mit der Erfahrung eines EVS in einem mitteleuropäischen Land vergleichen, aber ich glaube dass die Erfahrung einer Kultur, die der deutschen ziemlich entfernt ist, vielleicht sogar ein bisschen bereichernder ist ;)
Das EVS-Format in der Türkei kann aber auch eine kleine Herausforderung sein: Aus der Erfahrung in meinem Projekt und den Berichten anderer Freiwilliger zufolge kann ich sagen, dass die Projekte häufig völlig frei zu gestalten sind. Man muss sich also in der Regel seine Aufgaben selber suchen und sich um vieles selber kümmern, da die türkische Organisation häufig sehr umständlich und ineffizient ist - so weiß zum Beispiel keiner in meinem Jugendzentrum wann die nächste Veranstaltung stattfindet oder wer welche Verantwortlichkeit hat. Gerade wenn man professionell arbeiten möchte kann einen das schon mal frustrieren… Wenn einem diese Umstanden aber bewusst sind, kann man die Freiheit super nutzen und mit viel Eigeninitiative Projekte realisieren!
Hoffentlich konnte meine Reflexion über Freiwilligendienste in der Türkei ein paar Vorteile ausräumen und den ein oder anderen inspirieren, sich diese Möglichkeit einmal zu überlegen :)
Hier findet ihr super viele Informationen über verschiedene Projekte in der Türkei: http://www.evsinturkey.com
Aktuelle Stellenausschreibungen in der Türkei: https://findevs.com/category/evs-turkey/
Die türkische Nationalagentur: http://www.ua.gov.tr/en