Die kemalistische Revolution

Was auf mich zunächst einmal höchst sonderlich gewirkt hat, ist mittlerweile zum Teil meines Alltagsbildes geworden: Atatürk. Überall. Überdimensional groß. Und immer verbunden mit anderen Nationalsymbolen der Türkei - Was viel über die Geschichte und die Geschichtsschreibung dieser noch jungen Nation aussagt.  

Egal wen ich frage, ob alte oder jüngere Menschen, religiös oder säkular, selbst Anhänger (fast) jeden politischen Lagers stimmen in einer Sache überein: Atatürk ist der größte Politiker, den die Türkei je gesehen hat. Er hat die Nation gegründet, daher auch sein Name Atatürk: Vater der Türken. Was hat Atatürk nun aber so einzigartiges vollbracht, dass eine Nation sich noch heute über ihn definiert und ihm täglich huldigt? 

Nach dem Verlust des ersten Weltkrieges, bei dem das Osmanische Reich an der Seite der Mittelmächte kämpfte (unteranderem mit Deutschland, was nochmal eine andere Geschichte ist..), zerbrach der "kranke Mann am Bosporus" Vollendens. Nach Jahren der Besatzung nutze ein junger General Mustafa Kemal das Machtvakuum und eroberte mit einer zunächst kleinen Gruppe von Militärs einen Teil des ehemaligen Großreiches zurück. Dieser militärische Sieg würde vermutlich bereits ausreichen, um ihm ewigen Ruhm zu bescheren, aber Atatürks Ambitionen waren größer. Er wollte dieses Land mit seinen Menschen zu etwas wirklich Großem einen, koste es, was es wolle. Auch Menschenleben: Tatsächlich erzwang er auch eine ethische Homogenisierung: Indem er zum einen ethnische Minderheiten, insbesondere die Kurden, leugnete und als "Bergtürken" deklariere, also als ein wenig andere, vielleicht ein bisschen ländlichere Türken definierte. Dazu gehörte auch, dass er ihre Sprache, das Kurdische, und das Zelebrieren ihrer Traditionen verbot. Zum anderen trug die Idee einer "Turkifizierung" der Gesellschaft auch dazu bei, dass ethische Gruppen wie beispielsweise die Armenier Diskriminierungen, Repression bis hin zum Genozid ausgesetzt waren.  

Atatürk war ein radikaler Reformer – Er sah die Gesellschaft im Osmanischen Reich als zu verkrustet an, als zu religiös und rückwärts gewandt. Daher begann er mit einem umfassenden Reformprozess, welcher das Gesicht der Türkei bis heute prägen sollte. Er setzte eine neue Verfassung in Kraft, in welcher Staat und Religion ausdrücklich getrennt sind (der Laizismus), er entwickelte eine neue Sprache mit eindeutig europäischen Einflüssen und verbesserte das Bildungssystem. Eine Modernisierung und Liberalisierung im Schnelldurchlauf sozusagen.  

Dafür muss man ihm Respekt zollen, auch meiner Meinung nach ist das eine gewaltige politische Leistung, aber warum wird heute fast schon Gott-gleich verehrt? Bei meiner Recherche unter meinen türkischen Freunden zeigt sich, dass Atatürk eher etwas symbolisiert, er ist das Gesicht eines großen Machtfaktors in der Türkei: Dem Militär.  

Dieses versteht sich als Hüter des Erbes Atatürks und ist der Gegenpol zu einer anderen bedeutenden Macht im Land: der religiösen Elite. Denn auch wenn Atatürk vieles tat, um ein westliches, säkulares Leben zu propagieren, der Islam hat gerade in den ländlichen Gebieten noch ungebrochenen Einfluss. Und das heute mehr denn je: Das erklärt auch die erneuten Spannungen zwischen Staat und Militär, der bis zum Militärputsch 2016 geführt hat. Denn der regierende Präsident Erdogan gehört den islamischen Konservativen an und arbeitet hart daran, den Kemalismus abzubauen. Und so werden nun bald vermutlich immer mehr Erdogan Profile die Straßen schmücken... 

Dieser Prozess bringt eine gesellschaftliche Spaltung mit sich, zwischen Kemalisten, die sich selbst als aufgeklärt und liberal sehen und konservativen Muslimen, die sich auf dem rechten Weg sehen – Spannend wird nun, wie sich die Türkei mit dieser Differenz entwickeln wird.  

Weitere interessante Links: http://www.bpb.de/izpb/77030/vom-reich-zur-republik-die-kemalistische-revolution