Die andere Schnecke
Ist Solidarität wirklich nur ein unbedingtes Zusammenhalten aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele? - Vielleicht ist es auch mehr die praktische Solidarität nach Hannah Arendt und Karl Marx.
Wo beginnt Solidarität? Ist sie etwas Instinktives? Ab wann empfinden wir sie und drücken sie aus? Eine kleine Forschungsreise, in Form einer Kurzgeschichte.
Sammy war auf dem Weg nach Hause und mühte sich mit ihrem Schulranzen ab.
Es war ein toller Schulranzen, knallrot und mit lässigen, mit Lupe bewaffneten Detektivinnen drauf. Sammy war sehr stolz auf diesen Ranzen und liebte ihn über Alles, aber heute war sie schlecht gelaunt und hätte ihn am liebsten in eine Ecke gepfeffert. Sie wollte nicht nach Hause. Sie hatte absolut keine Lust auf zu Hause. Mama war gestern von einer Reise zurückgekommen und wenn sie redete und etwas aus der Schule erzählte, würde sie ihr wieder den Mund verbieten. Sie würde ihre Hausaufgaben machen müssen. Alleine. Und gleich, nachdem sie zu Hause angekommen war. Papa kam heute erst spät von der Arbeit zurück, kurz bevor sie ins Bett musste. Also machte Sammy einen Umweg über den Spielplatz. Sie würde einfach sagen, Frau Polanski hätte sie nicht rechtzeitig aus dem Hort losgeschickt.
Statt gleich rechts um die Ecke abzubiegen, ging sie also weiter geradeaus zum Klettergerüst.
Sie hatte Glück. Auf dem Spielplatz traf sie ihren Schulfreund Rocko. Rocko war wirklich lustig, ein bisschen wild, ja, aber er kannte tolle Experimente. Gemeinsam mixten sie Zaubertränke, zerhackten geklaute Kreidestückchen aus der Schule, die sie mit Cola übergossen, um dann zu sehen, wie der selbstgebaute Sandvulkan anfing zu schäumen.
Heute sammelten sie Schnecken und veranstalteten ein Rennen. Rocko nannte die langsamste Schnecke Herrn Tiedke. So hieß ihr neuer Klassenlehrer. Sie hatten erst seit ein paar Wochen bei ihm Unterricht, aber Rocko konnte ihn nicht ausstehen. „Der wackelt immer so dumm mit dem Kopf, wenn er redet. Und wenn du mich mit Radiergummistückchen beschmeißt, stellt er dich vor die Tür. Er hat dir nicht einmal eine Chance gegeben. Und dann sagt er immer, weil wir das schon seit Wochen machen, gibt es keine Chance mehr. Blödes Arschloch. Morgen beschmeiße ich IHN mal mit Radiergummistückchen. Das findet der bestimmt nicht lustig. Als wäre es für uns lustig, vor der Tür zu stehen. Dabei ist das ja nur ein Spaß von uns. Suleman wird mir morgen helfen.“
Suleman war Rockos Freund und ziemlich dumm. Auf dem Pausenhof prügelte er sich immer mit anderen Kindern. Aber weil Sammy stärker war als er, hatte sie im Gegensatz zu den meisten ihrer Mitschüler keine Angst vor ihm. Und nun sollte er also wieder einmal Rockos Handlanger spielen und Herrn Tiedke ärgern. Gut, sollte ihr recht sein. Eigentlich hatte Sammy nichts gegen Herrn Tiedke, aber er war wirklich seltsam und langsam bekam sie das Gefühl, dass ziemlich viele Schüler der 3b ihn nicht leiden konnten.
Also beschimpfte sie weiter die langsame Schnecke mit Rocko und setzte sie dann, als sie gingen, ganz alleine unter den Dornenbüschen aus. Eigentlich sah ihr Haus ganz hübsch aus, gelb, mit grauen Sprenkeln.
Aber sie war eben langsam und komisch und hatte es, da sie Herr Tiedke hieß, verdient, sich an den Dornen zu piksen.
Sammy hatte zwar nach wie vor keine große Lust, zu Mama in die Wohnung zurückzukehren, aber sie war jetzt besser gelaunt. Rocko hatte ihr ein cooles Kaugummitattoo geschenkt und ihre Lieblingsschnecke hatte zweimal gewonnen.
Als sie am nächsten Morgen in die Schule kam, hatte sie Rockos Gerede vom Vortag eigentlich schon längst wieder vergessen. Doch als Sammy sah, wie er eilig im Raum hin und her sauste, um jedem der Jungen sowie einigen Mädchen etwas ins Ohr zu flüstern, machte sich ein mulmiges Gefühl in ihr breit. Rocko erblickte sie und grinste ihr zu. Es war sein fiesestes Grinsen. Sie grinste zurück. Genauso fies, wie möglich. Auf keinen Fall durften die Anderen denken, sie wäre ein Looser und mache nicht mit.
Als Herr Tiedke reinkam, fiel ihr ihre Abgrundtief-Fies-Einstellung auch gar nicht mehr so schwer. Er war wirklich komisch. Seine Haare standen zu allen Seiten ab. Er nuschelte ein „Guten Morgen liebe 3b“ und zeigte bei einem hinterhergeschobenen Lächeln seine Hasenzähne. Die Hose, die er trug, war zu lang und sein Hemd nass unter den Armen. Es war, als träfe man die Unsympathie in Person.
Sammy konnte ihn gar nicht richtig mögen. Und das, obwohl er ihr nie etwas getan hatte oder besonders unfreundlich gewesen war. Das spürten wohl auch die anderen Kinder. Zumindest die meisten. Die, die von Rocko eingeweiht worden waren, warfen sich feixende Blicke zu. Sie warteten auf ein Zeichen. Doch noch blieb ihr Anführer stumm. Herr Tiedke fragte nach den Hausaufgaben und sie gingen sie stöhnend durch. Dann teilte er Arbeitsblätter zur korrekten Kommasetzung aus. Als er bei Rocko angekommen war, rief dieser: „Uäähh, Herr Tiedke, Sie haben auf mein Blatt gespuckt. Wie eklig!“ Einige Kinder fingen an zu lachen. Andere fielen in das Uäähh-Würggeräusch mit ein.
Der Lehrer wurde rot und gab dem Jungen ein neues Blatt. „Sie machen das doch extra. Weil sie mich nämlich nicht leiden können“. Der Lehrer verneinte. Rocko schwieg. Sie lasen den Text.
Es war eine Kopie aus einem Tierlexikon über den Feldhasen. Bingo. Seine Nase zuckt leicht, wenn er schnüffelt, stand dort. Außerdem verfügt er über starke, extra lange Nagezähne.
„Das sind ja sie! Mit dieser Beschreibung vorm Gesicht, brauchen sie ja gar keinen Spiegel mehr!“ „Raus“, rief Herr Tiedke. Und in seine Wut mischte sich dieser seltsame Ausdruck, bemerkte Sammy. War es Enttäuschung? – Nein. „Nein. Ich gehe nicht. Holen Sie mich doch“. Und als der Lehrer sich auf Rocko zu bewegen wollte, krähte dieser los: „Alarm!“. Immer wieder. Und der Großteil der Kinder fing an, Radiergummies und Papierbälle auf den Lehrer zu werfen. Sammy sah, wie der Lehrer plötzlich anfing zu zittern. Gleich würde er vermutlich entweder zusammenbrechen oder anfangen zu weinen. Sie sah wie im Rausch die Meute der Mitschüler immer wilder krakelen und schmeißen. Und dann hörte sie sich selbst schreien. „Aufhören“. „Hört doch endlich auf“. Immer wieder. „Aufhören“. Und sie sah die Augen ihres Lehrers. Perplex. Immer noch etwas verzweifelt, aber vor allem Fassungslos. Sie hatten die Farbe des Schneckenhauses. Honiggelb, mit grauen Sprenkeln darin.
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