Demokratie braucht Protest!
Eine Analyse über die Konsequenzen der Proteste in der Ukraine
In der Ukraine stehen Menschen auf der Straße, sie skandieren, sie harren der Kälte aus, sie lamentieren, sie erheben sich gegen die Repressalien der Staatsmacht. Warum tun sie das? Kann man ihnen nicht Dummheit vorwerfen? Wäre es nicht einfacher, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren? Sich taub zu stellen? Wegzuschauen? Nichts zu sagen? Wie die drei Affen eines berühmten Künstlers? Ist Unwissenheit nicht ein Segen? Nein! Natürlich braucht es Mut, aufzustehen und Fehler öffentlich anzuprangern, auf Missstände konstruktiv hinzuweisen. Die Ukrainer haben diesen Mut!
Es haben sich weltweit in den verschiedensten Gesellschaften zu viele Menschen bereits mit den Gegebenheiten arrangiert und schweigend, abwartend auf Änderungen gehofft. Es braucht aber jemanden, der aufsteht, der den ersten Schritt macht, der offen ausspricht, was gedacht wird. Es braucht aber jemanden, der darauf pocht, dass es Veränderungen gibt, es braucht jemanden, dessen Passion die Progression ist.
In Deutschland ein ganz anderes Bild: Unsere Demokratie, das institutionalisierte bürgerschaftliche Engagement hat an Schwung verloren. Parteien und Gewerkschaften altern, ihnen fehlt der Nachwuchs. Die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, sinkt. Welche Freiwilligen Feuerwehr fehlen nicht die Mitglieder? Welcher Sportverein kann nicht mehr ehrenamtliche Trainier gebrauchen? Macht und Herrschaft wird in Berlin bürokratisch verwaltet – in modernen Büros, mit Drucksachen, bequemen Stühlen aus einem blauen Stoff, welcher politische Neutralität sicherstellen soll. Hier wird auch gekämpft, gestritten, manchmal werden sogar kleine Revolutionen ausgetragen. In Berlin gibt es keine Bürger, die Steine werfen müssen, um wahrgenommen zu werden. Hier reicht ein Brief an den Petitionsausschuss oder der Besuch des jeweiligen Abgeordneten im Wahlkreisbüro oder im Bundestag. Wer sich ungerecht behandelt fühlt, kann sogar die Staatsmacht verklagen – in Deutschland gibt es für solche Dinge Formulare, Richtlinien und Gesetze. Man mag sich über ihre Existenz bisweilen aufregen, gleichwohl stellen sie Gerechtigkeit, Verhältnismäßigkeit und Gleichheit her. Kein Bürger muss befürchten, aufgrund seines Geschlechtes, seiner Herkunft, seiner Religion, seiner politischen Einstellungen oder Sexualität verfolgt oder benachteiligt zu werden. Dieses sind sehr hohe Werte – für die Generationen vor uns gekämpft haben. Es ist viel Blut geflossen, uns würde schaudern, könnte der Reichstag von dem Demütigungen erzählen, die ihn während der letzten Jahrhunderte seit seiner Erbauung aus den Reparationszahlungen des Deutsch-Französischen Krieges 1871 heimgesucht haben.
Demokratie ist, wie die Bilder aus der Ukraine zeigen, mehr als nur alle vier Jahren eine Wahl abzuhalten. Demokratie ist ein Lebensgefühl! Es ist keine zwanzig Jahre her, als unsere Eltern in Leipzig, Berlin und vielen anderen Städten riefen: Wir sind das Volk! Deutschlands Bürger haben sich auf einem steinigen Pfad den Weg zur Demokratie erkämpft – zwei Diktaturen, zwei Weltkriege, zwei Weltwirtschaftskrisen konnten dieser Idee in Deutschland nichts anhaben. Der 9. November der Jahre 1848, 1918, 1923, 1938 und 1989 steht für diesen schmerzhaften Weg Deutschlands. Wir haben lange gebraucht – vielleicht länger, länger als andere Länder. Trotzdem haben wir diesen Weg doch recht erfolgreich gemeistert, seit gut siebzig Jahren haben wir in Deutschland eine hohe Streitkultur mit niveauvollen Debatten und Auseinandersetzungen etabliert. Eine handvoll Qualitätsmedien begleiten das Geschehen kritisch, aber konstruktiv. Doch auch Deutschland hat ein Problem – genauer: wir haben ein Luxusproblem. Die Verfassung unserer Demokratie bröckelt, bröselt, ihr Zustand ist bedenklich. Wir befinden uns in einer freizeitorientierten Schonhaltung. Es fehlt stellenweise an Begeisterung, an Neugier und Interesse der Bürger. Das Aufkommen der verschiedenen Parteien in den letzten Jahren (wie etwa die Piraten oder die AfD) zeigt, dass die klassischen Volksparteien vielleicht zu langsam, zu träge sind. Auf der anderen Seite ist aber auch noch sehr viel Bewegung auf dem politischen Bankett zu beobachten, wie etwa das Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag zur Wahl 2013 zeigt.
Die Bilder aus Kiew und anderen Städten dieser Welt, wo immer Menschen auf ihre Rechte auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität/ Brüderlichkeit beharren, es einfordern, für demokratische Werte einstehen, sind eine Aufforderung und Mahnung zugleich. Wir dürfen nicht zulassen, dass es Menschen gibt, denen elementare Menschenrechte verwehrt werden. Deutschland kann es sich mit Blick auf die neuere Geschichte nicht leisten, keine Meinung zu haben. Dabei müssen viele Einflussfaktoren berücksichtigt werden. Es ist töricht zu behaupten, alleine starke militärische Präsenz oder gar eine Intervention könnte die Dinge von heute auf morgen ändern. Demokratie braucht Zeit, Geduld und kostet Nerven und Mühe. Gerade bei einigen Staaten, die beispielsweise strategische Gas- oder Öllieferanten sind, müssen auch wirtschaftliche Interessen berücksichtigt werden. Deutschland kann nicht die Welt retten – aber wir können es versuchen. Wir können Signale setzen, Leuchtfeuer verteilen. Alle großen Dinge beginnen damit, dass einer anfängt. Es liegt an uns, Demokratie nicht als Selbstverständlichkeit zu betrachten und für sie zu kämpfen. Wir sind es unserer Vergangenheit schuldig.