Das Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles
Marschrutkas sind die Verkehrmittel im öffentlichen Fern- und Nahverkehr im Kaukasus. Wer also irgendwann einmal im Kaukasus reisen möchte, sollte sich auf Erlebnisfahrten der besonderen Art gefasst machen.
Die Sonnenstrahlen kitzeln mein Gesicht und der Wind lässt meine mittlerweile viel zu lang gewordenen Haare fliegen. Die Aserbaidschaner*innen um mich herum diskutieren lautstark über Lebenshaltungskosten während die Musik aus meinem MP3-Player vergeblich versucht, sie zu übertönen. Die kaukasische Landschaft und Häuser fliegen an mir vorbei und für einen kurzen Augenblick empfinde ich mit jeder Faser meines Körpers Glück. Der Moment wird jäh unterbrochen, als ein Aserbaidschaner das Fenster der Marschrutka zu macht. Irgendwie sind Aserbaidschaner*innen, aber auch Georgier*innen, keine Anhänger von Frischluft im Bus. Der Windhauch könnte ja dazu führen, dass mensch sich erkältet. Ich starre das geschlossene Fenster an und frage mich, ob ich mittels Gedankenkraft es wieder öffnen könnte.
Diese kurzen Momente am geöffneten Fenster sind für mich die Höhepunkte jeder Reise. In diesen Augenblicken mischt sich ein Gefühl von Unendlichkeit, das sich durch die kaukasische Landschaft einstellt, mit einem Wunsch nach Freiheit. Die Freiheit, die mensch nur auf Reisen spürt. Die, in der alles möglich scheint und die Wirklichkeit ausgeblendet wird. Für mich ist Marschrutka fahren mehr als nur ein Mittel zum Zweck. Es ist eine Lebenseinstellung. Nun gut, viel bleibt mir auch nicht übrig, da Marschrutkas im Normalfall auch das einzige Fortbewegungsmittel sind. Will Mensch im Kaukasus von A nach B kommen, wird seine oder ihre Wahl auf die Marschrutka fallen. Es sei denn, dieser Mensch ist reich oder hat irgendeine wichtige Arbeit. In beiden Fällen gibt es dann einen privaten Fahrer. Aber für uns 'Normalsterbliche' bleibt die Marschrutka. Diese kleinen, günstigen VW- oder Mercedes-Transporter, die bei uns in Deutschland für Umzüge oder Handwerksbetriebe genutzt werden. Im Kaukasus wurden Sitzplätze eingebaut und die Seiten haben Fenster zum Rausschauen... oder kurzzeitigem Öffnen. Und da die meisten Straßen holprig und voller Schlaglöcher sind, benötigt so eine Marschrutka auch für kurze Entfernungen oft lange Fahrtzeiten. Für die ca. 285 km von Ganja nach Baku, zum Beispiel, ungefähr 5 bis 6 Stunden. In meinem Universum sind das dann 4 bis 5 Stunden lesen.
Und Marschrutkafahren ist nicht gleich Marschrutkafahren. So gibt es in Aserbaidschan eine feste Sitzordnung. Eine, die ich meinen Freund*innen in Georgien immer wieder erkläre. Vorne, neben dem Fahrer sitzen nur Männer. Es schickt sich nunmal nicht für eine Frau, neben dem männlichen Fahrer zu sitzen. Und aus einem Grund, der sich mir noch nicht erschlossen hat, ist auch die letzte Reihe in der Marschrutka für Männer reserviert. Alle Sitzreihen dazwischen dürfen von weiblichen Reisenden eingenommen werden. Männer, die auf diesen Plätzen sitzten, machen auch für neu eingestiegene weibliche Fahrgäste Platz, falls es möglich ist. Was es meistens nicht ist. Die Überlandmarschrutkas sind immer bis zum letzten Platz gefüllt und wer denkt, dass es dann losgehen kann, hat die Rechnung ohne Klappsitze und Zusatzhocker gemacht. Wenn alle gepolsterten Sitze belegt sind, werden extra Sitze ausgeklappt. Diese sind an den Sitzen, die am Gang liegen, befestigt. Oder in älteren Marschrutkas, in denen es keine neumodischen Klappsitze gibt, werden unter Sitzen Holz- oder Plastikhocker herausgeholt, die bis dahin dort versteckt waren. Der Gang ist somit auch mit Sitzplätzen gefüllt. Deutschen Sicherheitsvorschriften würde das eher nicht entsprechen, da der Fluchtweg nun voll ist. Wer im ICE oder einem anderen deutschen Zug schon mal vom Zugbegleitpersonal angepampt wurde, weil das Gepäck den Fluchtweg versperre, weiß, wovon ich rede. Aber deutsche Sicherheitsvorkehrungen sind weit weg, hier, in der Marschrutka im Kaukasus. Praktikabel heißt die Devise. Und so fährt die Marschrutka auch erst los, wenn der Fluchtweg voll gestopft ist mit Klappsitzen, Hockern, Menschen und Gepäck, das irgendwie noch magischerweise unter den Sitzen verstaut wird.
Eigentlich gibt es meistens Abfahrtszeiten für Marschrutkas, aber wer sicher gehen möchte, dass er oder sie die Wunschmarschrutka erwischt, sollte mindestens eine halbe Stunde vor Abfahrtszeit am Abfahrtsort sein, denn wenn der kleine Bus erst einmal voll ist, fährt er ab. Egal, ob es noch 20 Minuten bis zur eigentlichen Abfahrtszeit wären. Und Warten wäre in dem Fall ja auch sinnlos. Die Marschrutka ist ja schon bis oben hin voll. Und dann quält sich der alte Transporter über Straßen und durch Dörfer. Bis irgendwann einer der Mitreisenden das magische Wort sagt: Saxla! (Anhalten!) (Alternativ im Georgischen übrigens Gaminscheret. Das heißt dann soviel wie: Ich möchte aussteigen.) Aber sowohl in Aserbaidschan als auch in Georgien ist der Mensch, der aussteigen möchte, im ziemlich wahrscheinlichen Zweifelsfall einer von denen, die bis hinten sitzen. Hocker müssen aus der Marschrutka rausgeholt werden, wie auch das Gepäck und die Klappsitze kurzzeitig wieder in ihre Anfangsposition gebracht werden, damit der Mensch von bis hinten zur Tür am Anfang der Marschrutka durch kann. Und dann sind da ja noch die ganzen Menschen, die irgendwie nicht einsehen, dass es schneller gehen würde, wenn sie kurz aussteigen, den Menschen rauslassen und dann wieder einsteigen. Nein, in der kleinen Marschrutka wird sich aneinander vorbei geschoben bis am Ende ein einziger Menschenhaufen ensteht, in dem noch ein paar Arme und Beine zu erkennen sind. Und so chaotisch, wie der entstanden ist, löst sich der menschliche Knoten auch wieder auf. Klappsitze werden wieder nach unten geklappt, Gepäck verstauft, Hocker aufgestellt und jede*r kann sich wieder hinsetzen. Weiter geht die Fahrt. Bis die nächste Person aussteigen möchte. Oder einsteigen. Denn offizielle Haltestellen gibt es wenige. Marschrutkas halten da, wo mensch möchte. Vor dem Haus der Tante, die mensch gerade besucht oder auch vor dem Supermarkt. Menschen auf der Straße hingegen halten die Marschrutka mit einer winkenden Armbewegung an. Meine Lieblingsfahrten sind die, die das ganze Können von Marschrutkas beweisen. Eine junge Mama mit ihrem Baby wird die schneebdeckte, matschige, nicht geteerte Straße bis ans Ende des Dorfes gefahren, damit sie direkt vor ihrem Haus aussteigen kann. Ein Umweg, der 30 Minuten in Anspruch nimmt, die anderen Fahrtgäste aber nicht irritiert. Oder eine ältere Dame muss nochmal kurz Brot einkaufen. Dann wird vor dem Bäcker gehalten. Oder der Mann neben dem Fahrer muss noch kurz einen kleinen Einkauf in einem kleinen Supermarkt machen. Und nicht zu vergessen, dass der Marschrutkafahrer auch noch tanken muss. Und vielleicht auch noch den Reifendruck kontrollieren möchte. Zeit ist relativ im Kaukasus. Alle haben davon ganz viel und ob die Fahrt nun eine Stunde mehr oder weniger durch all diese Erledigungen braucht, ist nun auch nicht wichtig. Manchmal ist eben doch der Weg das Ziel.
Und während alle ihren Erledigungen nachgehen, sitze ich in der Marschrutka und lese. Oder betrachte die Welt, die sich vor mir aufzeigt. Schafe und Kühe laufen auf der Straße umher und blockieren gerne auch mal den Straßenverkehr. Hinter den Tieren erkenne ich Flüsse, die in Aserbaidschan kaum oder auch gar kein Wasser haben und in deren Flussbetten bereits einige Häuser gebaut wurden. Anscheinend haben auch die Anwohner*innen dieser Flüsse keine Hoffnung mehr, dass das Wasser irgendwann zurück kommt. Oder sie sind sehr risikofreudig. Viel mehr als Tiere, Landschaft und Häuser in Flussbetten kann ich dann allerdings auch nicht erkennen, weil die Mauern, die traditionell um die Häuser in Aserbaidschan gebaut werden, meine Sicht versperren. Dafür kann ich in den Marschrutkas beobachten, wie sich in Georgien Menschen dreimal bekreuzigen, wenn sie an einer Kirche oder einem christlichen Bild, von denen immer mal wieder eins zu sehen ist, vorbei fahren. Und ich habe ständig den Geruch von Lagerfeuer in der Nase. Entweder grillen die Menschen im Kaukasus gerne oder sie erledigen sich ihres Mülls mittels Lagerfeuer. Und als ich mich noch nicht entscheiden kann, welche Erklärung für den Lagerfeuergeruch wohl die richtige ist, dreht der Marschrutkafahrer die Musik auf. So ziemlich jeder Marschrutkafahrer hat wohl seinen eigenen Fahrthitmix, mit dem er über Lautsprecherboxen seine Fahrtgäste beschallt. Nach vielen Fahrten in Marschrutkas habe ich nun einen ziemlich guten Überblick über Musik im Kaukasus. Nur manchmal überraschen mich Fahrer mit ihrer Musik noch. Sehr zu meiner Freude.
Und dann ist noch das Offensichtliche. Ich bin meist die einzige Ausländerin in der Marschrutka. Es sei denn, ich reise mit Freunden. Dann sind wir die einzige Gruppe an Ausländer*innen. Und das wird immer mit Staunen wahr genommen. In Aserbaidschan äußert sich das oft durch neugieriges Anstarren. Aber manchmal auch durch interessierte Fragen. Seitdem mein Aserbaidschanisch Small-Talk-fähig ist, kann ich auch diese Fragen auf Aserbaidschanisch beantworten. In Georgien hingegen zeichnet sich die mir bereits bestens bekannte georgische Gastfreundlichkeit ab. Ich kann kaum noch die Marschrutkafahrten zählen, in denen ich Essen angeboten bekommen habe. Brot, Gebäck, oder einmal auch rohen Fisch. Zum Staunen meines Mitfreiwilligen, der den Fisch nicht angerührt hat, habe ich ein bisschen davon gegessen. Und nur gehofft, dass mein Magen sich gnädig zeigen wird. Hat er getan. Marschrutkafahrten in Kombination mit georgischer Gastfreundschaft kann mein Magen gut verkraften.
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