Das schwierige Verhältnis zum Nachbarn
Estland und Russland verbindet eine lange, gemeinsame Geschichte, die noch nicht zu Ende erzählt ist. Während das politische Verhältnis der beiden Staaten angespannt ist, kämpft die russischsprachige Minderheit in Estland gegen Diskriminierung.
Am 20. August 1991 erlangte Estland nach einem langwierigen jedoch meist friedlichen Prozess der Loslösung von der Sowjetunion seine Unabhängigkeit wieder. Seitdem beobachtet Russland mit Widerwillen, jedoch ohne direkte Möglichkeit der Einflussnahme, wie die ehemalige Sowjetrepublik sich immer weiter nach Westen orientiert. Ob kleine Veränderungen, wie dass immer mehr estnische Kinder in der Schule lieber Deutsch oder Spanisch anstelle von Russisch lernen oder große politische Entscheidungen wie der Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 2004, Russlands Einfluss in dem kleinen Ostseestaat sinkt. Selbst die Einführung des Euros als offizielles Zahlungsmittel in Estland wurde von russischen Medien als Provokation aufgefasst, da die Grundumrisse Estlands auf der Euromünze aus ihrer Sicht auch russisches Territorium umfassten. Die russische Botschaft in Tallinn empfand dies als erneuten Versuch, „die geltenden Grenzen zu revidieren“, was von der estnischen Regierung jedoch verneint wurde. Der exakte Grenzverlauf zwischen Estland und Russland war seit der Auflösung der Sowjetunion einer der größten Streitpunkte zwischen den beiden ungleichen Staaten. Erst 2011 konnte mit der Unterzeichnung eines Grenzvertrages beider Seiten nach mehreren Jahren Verhandlungen, der genaue Verlauf der 294 Kilometer langen Grenze festgelegt werden. Besondere Brisanz gewinnen diese Verhandlungen dadurch, dass sie nicht nur eine Landesgrenze bestimmen, sondern auch einen Grenzteil des Schengenraumes.
Russische Minderheit in Estland
Den heutzutage schwerwiegendsten Konflikt zwischen den beiden Staaten bildet jedoch die große russische Minderheit, die bis heute auf estnischem Gebiet lebt. Die Menschen kamen zu Sowjetzeiten in Mengen in das Land geströmt, ob als einfacher Arbeiter oder Offizier der russischen Armee. Die knapp 330.000 Russischstämmigen bilden in dem baltischen Staat mit 1,4 Millionen Einwohnern rund 30% der Bevölkerung. Vor der Annexion betrug dieser Anteil gerade einmal acht Prozent. Sie leben meist im Osten, nahe der russischen Grenze, und mit wenig Kontakt zu Esten oder der estnischen Kultur. Die Grenzstadt Narva gilt als Zentrum der russischsprachigen Minderheit in Estland. Hier sind rund 95% der Einwohner russischsprachig. Russische Geschäfte und Schulen prägen das Stadtbild. Selbst die Universität Tartu hat hier eine Außenstelle, an der hauptsächlich auf Russisch unterrichtet wird. Zwar sprechen die meisten jungen Menschen hier auch Estnisch, insbesondere bei den älteren Generationen ist jedoch eine Kluft zwischen Esten und Russen zu erkennen. Zudem besitzen von den 85.000 Einwohnern Narvas nur rund 6.000 einen estnischen Pass. Viele Russischstämmige Einwohner Estlands, und hier kommen wir zu dem wahren Streitpunkt zwischen dem Kreml und Tallinn, sind nämlich staatenlos. Moskau hat beanstandet, dass mindestens 100.000 Personen mit russischen Wurzeln in Estland keine Staatsbürgerschaft besitzen und den estnischen Staat aufgefordert, dieses Problem zu lösen. In Estland bekamen nämlich nach der Unabhängigkeit 1991 nur die Personen die estnische Staatsbürgerschaft, die auch schon vor der Annexion estnische Staatsbürger waren oder Vorfahren mit estnischer Staatbürgerschaft hatten. Heutzutage, und das will die estnische Regierung auch für die russische Minderheit im Land nicht ändern, muss jeder, der die estnische Staatbürgerschaft erlangen will, einen Einbürgerungstest absolvieren. Dieser besteht neben Fragen zu der Geschichte und Verfassung Estlands auch aus einem Sprachtest, wobei gerade letzteres den älteren Russischstämmigen große Probleme bereitet. Ihre Muttersprache hat wenig mit dem Estnischen gemein, selbst die Schriften sind unterschiedlich. Auch die Notwendigkeit die Sprache ihres neuen Heimatlandes tatsächlich zu lernen, sehen viele Angehörige der russischen Minderheit nicht. Sie leben in einer russischen Parallelwelt innerhalb Estlands, sowohl ihre Nachbarn, die Kassiererin an der Supermarktkasse als auch der Busfahrer sprechen Russisch, sodass es, auch knapp 30 Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion, noch immer russischstämmige Einwohner in Estland gibt, die kein Wort estnisch können.
Bringt die Jugend einen Wandel?
Während politisch für die Situation der russischen Minderheit in Estland daher keine wirkliche Entspannung in absehbarer Zeit zu erwarten ist, ist in der Bevölkerung und dem normalen Alltag jedoch ein deutlicher Wandel zu erkennen. Während Sowjetzeiten wurden die zugewanderten Russen von den Esten als ein Versuch der Kolonialisierung ihres Landes angesehen, als Fremde in ihren eigenen russischen Stadtvierteln, nicht jedoch als Mitbürger. Die Russen fühlten sich in ihrer neuen Heimat nicht willkommen, Russland, nach dem Zerfall der Sowjetunion mit dem Aufbau eines neuen, funktionierenden Staates beschäftigt, zeigte jedoch auch kein Interesse an ihnen. Es entstand ein Missfallen und Misstrauen zwischen den beiden Gruppierungen im Land, das auch noch weit über die Sowjetunion bestand hatte. Gerade die junge Generation Russischstämmiger, die schon in dem unabhängigen Estland geboren wurde, durchbricht nun aber diese unsichtbare, für die ältere Generation scheinbar unüberwindbar wirkende Grenze zwischen ihnen und den Esten. Sie sprechen flüssig Estnisch, besuchen estnische Schulen, haben estnische Freunde. Eine Umfrage aus dem Jahr 2015 zeigt auch, dass sie Estland als ihre Heimat ansehen. So gaben 88% der jungen Russischstämmigen an, Estland als ihre Heimat zu bezeichnen, bei der Generation ihrer Großeltern dagegen nur 58%. Die junge Generation Russischstämmiger kann sich leichter mit Estland, der wachsenden, estnischen Wirtschaft und der Europäischen Union identifizieren. Sie sehen die Vorteile, welche ihnen Estland als Heimat bieten kann, was aber dennoch nicht bedeutet, dass sie sich vollständig von Russland abwenden wollen. Sprachlich und kulturell fühlen sich auch die jungen Menschen weiterhin mit ihrem großen Nachbar verbunden, wirtschaftlich und politisch orientieren sie sich jedoch an Estland und dem Westen. In Russland arbeiten oder mit ihrer Familie leben wollen die wenigsten von ihnen. Dieser Prozess, so sieht es derzeit aus, wird in der Zukunft weiter voranschreiten. Damit sich die russischsprachige Minderheit jedoch als vollwertige Mitbürger Estlands fühlen kann, braucht es nicht nur den Willen ihrerseits, sich ihrer neuen Heimat anzupassen, die Sprache zu lernen und sich zu integrieren, sondern auch den Willen der Esten, dies zuzulassen und die Vergangenheit, in der die Russen diejenigen waren, die ihnen Freiheit und Unabhängigkeit genommen haben, hinter sich zulassen.
Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Grenze_zwischen_Estland_und_Russland
https://www.mdr.de/nachrichten/osteuropa/politik/estland-revolution-unabhaengigkeit-sowjetunion-100.html
https://www.zeit.de/politik/ausland/2016-12/estland-baltikum-ethnien-russen-esten-sowjetunion
https://www.spiegel.de/politik/ausland/estland-und-lettland-das-problem-mit-der-russischen-minderheit-a-1169422.html