Das Leben mit Leben füllen
"Wieso denken eigentlich alle, dass die Abenteuerlust mit dem Alter nachlässt?" Das fragt sich die Granny, eine nette ältere Dame, die ihrem Fernweh und ihrem Herzen folgt. Ein Brief über Generationen und verpasste Chancen.
Liebe Granny,
eigentlich heißen Sie Monika, ich weiß. Doch Ihr Nachname fällt mir nicht mehr ein und auch nicht, ob wir schon beim Du waren. Aber das macht nichts, denn seit unserem Kennenlernen nenne ich Sie insgeheim nur „Granny“.
An das Kennenlernen kann ich mich gut erinnern, auch wenn ich an dem Tag viele Menschen getroffen habe. Es war meine erste Praktikumswoche im Goethe-Institut in Madrid und anlässlich des Europäischen Tags der Sprachen gab es deutsche Spezialitäten, Workshops und einen Bücherflohmarkt. Wir unterhielten uns in der Bibliothek, Sie waren auch erst in die Stadt gezogen und wollten gerne Spanisch lernen. Schnell merkte ich, dass Sie mit silberner Brille, grauen Haaren und geblümter Bluse wie viele ältere Damen aussahen, jedoch keine gewöhnliche Seniorin sind. Sie erzählten vom Granny Au-Pair und strahlten Selbstbewusstsein und Bestimmtheit aus. Wir stellten außerdem fest, dass wir gar nicht weit auseinander wohnten. Begegnet sind wir uns trotzdem nur im Goethe-Institut. Da saßen Sie fortan mit Ihren Sprachtandems und erklärten geduldig deutsche Grammatik. Wie viel Spanisch haben Sie eigentlich dabei gelernt? Nie bin ich dazu gekommen, Sie das zu fragen. Unser Kontakt beschränkte sich auf ein kurzes, wohlwollendes Kopfnicken im Vorbeilaufen oder ein schnelles „Hallo“ am Wasserspender.
Irgendwann, kurz bevor es zu spät war, habe ich Sie auf der Treppe angetippt und etwas überrumpelt mit der Frage nach einem Gespräch. Davor hatte ich ganz schön Herzklopfen, das können Sie mir glauben. Unser Gespräch hat mir deutlich vor Augen geführt, wie viel mehr Lebensweisheit und Auslandserfahrung in Ihnen steckt, obwohl wir auf den ersten Blick in einer ähnlichen Situation sind. Wenn wir junge Leute ins Ausland gehen, haben wir gerade das Abi in der Tasche, oft noch keinen Plan für die Zukunft und wollen einfach erst mal weg, die Welt erobern. Und Sie? Sie haben auch die Jugend zum Reisen in ferne Länder genutzt. Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, ist das Fernweh wieder in Ihnen erwacht. Sie entdeckten mit Granny Au-Pair das passende Programm: ein paar Monate weg, mit einer Familie leben, auf Kinder aufpassen und Deutschunterricht geben. Ihre eigenen Kinder freuten sich für Sie, Ihr Mann ließ Sie ziehen und Sie stürzten sich in das Abenteuer. Wobei stürzen vielleicht zu viel gesagt ist, Sie sind ja auch nicht mehr die Jüngste. Sie gehen es bestimmt und bedacht an, denn Ihre Erfahrung hat Ihnen gelehrt nicht alle Kompromisse einzugehen.
Was treibt Sie in die weite Welt? Zum einen sicher die Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen, die Ihre Augen beim Erzählen zum Leuchten bringen. Die Kinder der Au-Pair-Familien, denen Sie etwas beibringen können. Oder doch eine leichte Panik vor dem geordneten Rentnerleben? Wenn Sie betonen, sich selbst treu zu bleiben, klingt das überzeugend und von Herzen. Leute in meinem Alter haben selten so eine starke Haltung. Und ich überlege, ob Sie doch mal Sehnsucht nach Ihrem Mann oder Ihrem Zuhause zulassen.
Liebe Granny, mir ist ein Satz von Ihnen im Kopf geblieben. Sie möchten „das Leben mit Leben füllen“. Ein bemerkenswerter Satz, den ich manchmal leise vor mich hin sage. Er klingt nicht abgedroschen und jeder kann selbst entscheiden, was er darunter versteht. Ich glaube nicht, dass Sie gemeint haben, dass man jeden Tag mit Erlebnissen vollstopfen soll bis man abends müde ins Bett fällt. Ich denke, Sie meinen, dass Sie nicht im Stillstand verharren möchten, in Bewegung bleiben- geistig und körperlich. Ob Gespräche mit interessanten Menschen oder gute Bücher- beides ist bereichernd. In diesem Punkt sind wir uns wieder ähnlich.
Liebe Granny, ich wünsche Ihnen bei Ihren nächsten Abenteuern viel Freude und Zuversicht. Bleiben Sie so mutig und offen, wie ich Sie kennengelernt habe. Und wer weiß, vielleicht treffen wir uns mal unterwegs, irgendwo in Europa. Dann habe ich hoffentlich noch eine zweite Chance, Sie näher kennenzulernen.
Alles Liebe,
Helena
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