Cymru - Hen Wlad Fy Nhadau
Ein Jahr in Wales. Merthyr Tydfil, der Nabel der Welt. Über betrunkene Jugendliche, Teenagerschwangerschaft und die schönen Seiten des Lebens mitten im "sozialen Brennpunkt".
„Na dann viel Spaß in England!“ – Diesen Satz habe ich oft gehört, bevor ich zu meinem EFD in Wales aufbrach. Aber die Antwort „Ich gehe nach Wales, nicht nach England“ kam mir im Gegenzug nur selten über die Lippen. Klang irgendwie so besserwisserisch. Und überhaupt. England, Schottland, Wales – ist doch alles eine Insel.
Wenig später, angekommen in einem neuen Land. Wales? Großbritannien halt. Terrassenhäuser, wohin das Auge blickt. Fish & Chips. Eigenartiger Humor. Noch eigenartigeres Bier. Wales? Oder doch England?
Mein EFD hat begonnen. In Merthyr Tydfil. „Wie bitte spricht man das denn aus? Soll das Englisch sein?“, hörte ich oft von meinen Freunden. „Merthyr Tydfil“ – Wales. Für viele Briten eher ein Schandfleck. Merthyr Tydfil gilt gemeinhin als Inbegriff für „Rückstand“, „perspektivlose Jugend“, „Arbeitslosigkeit“ und „Teenagerschwangerschaft“. Für „alkoholkranke Jugendliche“, für „ganz unten auf der sozialen Leiter“.
Ich muss zugeben, die ersten Wochen ist mir das nicht so recht bewusst geworden. Alles war neu. Aufregend. So völlig anders. Klar, man registriert die teils heruntergekommenen Gestalten in der Innenstadt. Die betrunkenen Jugendlichen am helllichten Tag. Die teils verwahrlosten Häuser. Aber was geht mich das an? Ich lebe in Großbritannien, mitten in der sogenannten „Ersten Welt“ – Armut? Hier doch nicht. Und sowieso: Bin ich nicht eh nur hier, um mein Englisch zu verbessern, um Wales kennenzulernen und durch Großbritannien zu reisen?
In unserem Freiwilligenhaus sind wir zu viert. Eine Polin, eine Türkin, eine Italienerin und ich. Auch hier sind die ersten Wochen spannend. Man lernt sich kennen. Man lernt verschiedene Länder und Kulturen kennen. Man lernt neue Freunde kennen. Gemeinsam. Man unternimmt Ausflüge zusammen. Alles ist so neu. So aufregend. Oder nicht?
Mein Projekt: Arbeit mit „sozial benachteiligten Jugendlichen“. Ein wenig rumsitzen, quatschen, gemeinsam an der Wii spielen. Alles spaßig. Klar, manchmal, vor allem am frühen Nachmittag, kommen kaum Jugendliche. Es ist etwas langweilig. Aber man kann sich ja auch einfach mit den Arbeitskollegen austauschen. Über Gott und die Welt reden. Aus Deutschland erzählen. Etwas über Wales erfahren. Alles ist so neu, so interessant.
Von verschwendeter Zeit keine Spur. „Filled time“ statt „Killed time“, ganz klar!
Oder doch nicht? Nun ja. Hinterher ist man immer klüger. Aus heutiger Sicht ist es mir fast ein wenig unangenehm, wie ich die ersten Wochen, fast Monate meines EFD „verschwendet“ habe. Das ist aus meiner Sicht eben ein großer Nachteil des EFD: Man will das Land kennenlernen, reisen, Freunde finden, seine eigenen Interessen verfolgen. Der Gedanke an das Aufnahmeprojekt kann da schnell mal zu kurz kommen. Auch ich habe mich treiben lassen von all den neuen Eindrücken und Einflüssen, ohne selbst etwas in die Hand zu nehmen. Und auch die anderen EFD-Freiwilligen stellten sich nach einiger Zeit eher als „Enttäuschung“ heraus. Ein „internationales Gefühl“ wollte in unserer WG nie so richtig aufkommen. Meine Mitbewohnerinnen waren mehr mit sich selbst beschäftigt als mit ihren Projekten. Das Interesse an Wales war ebenso gering – einer der Auslöser, der zumindest mich wachrüttelte.
Ostern. Halbzeit. Sechs Monate meines EFD sind vorüber. Zeit für ein erstes Zwischenfazit: Seit dem Jahreswechsel hat sich einiges verändert in meinem Leben als Freiwilliger. Ich habe endlich angefangen, in Wales zu leben, aktiver Gestalter meines eigenen EFD zu sein. Irgendwas hatte sich geändert. Klar, ich aß auch schon vor Weihnachten Wochen Fish & Chips, ich reihte mich an Bushaltestellen brav in Warteschlangen ein, der Linksverkehr bereitete mir schon lange keine Probleme mehr und sogar das „Brains Beer“ schmeckte mit der Zeit.
Aber nicht nur deshalb fühle ich mich mittlerweile heimisch. Nein. Ich habe nicht nur eine andere Kultur kennengelernt. Ich habe vor allem auch mich selbst kennengelernt. Und ich habe Merthyr Tydfil und seine Bewohner kennengelernt. Ich habe verstanden, was es für junge Menschen bedeutet, wenn sie schon von klein auf nichts anderes kennen als ständig wechselnde Partner der eigenen Mutter, Alkohol, Arbeitslosigkeit, Schwangerschaft. Begriffen, was es für Teenager bedeutet, wenn ihre Heimatstadt mehrfach in Dokumentationen und Zeitungsartikeln über die „Fünf schlechtesten Wohnorte Großbritanniens“ auftaucht. „Wozu soll ich mich in der Schule anstrengen? Ich komme aus Merthyr, ich hab eh keine Zukunft“ – eine traurige Aussage, die ich nicht nur einmal gehört habe. An irgendeinem Punkt ist mir klar geworden, dass es für Jugendliche, für die ein Ausflug ins 50 Kilometer entfernte Cardiff schon eine Weltreise ist, zwar spannend ist, zu erfahren, wie junge Leute in Deutschland so leben. Aber zur Lösung ihrer Probleme in Merthyr Tydfil hat all dies kaum beigetragen. Ich wollte nicht mehr nur als „Botschafter“ meiner Kultur in Wales leben, um anschließend als „Botschafter“ der walisischen Kultur nach Hause zurückzukehren. Ich wollte nicht mehr nur durch Großbritannien reisen. Ich wollte nun helfen, diesen Jugendlichen. Vor Ort und lokal. Denn die europäische Idee war für viele Jugendliche in Merthyr Tydfil so weit entfernt, wie für den FC Schalke die Meisterschale.
Gemeinsam mit erfahrenen Jugendarbeitern habe ich seit Beginn des neuen Jahres dann an vielen kleinen und größeren Projekten gearbeitet. Wir haben Ausflüge nach Cardiff und London auf die Beine gestellt, Zeltlager an der wunderschönen Westküste organisiert, Infoveranstaltungen über Auslandsaufenthalte ins Leben gerufen und sogar einige junge Waliser per Austauschprogramm bis nach Spanien und Island geschickt – und im Gegenzug dafür habe ich eine Menge gelernt. Nicht nur über Wales, über die walisische Geschichte und den Traum, eines Tages unabhängig von Großbritannien zu sein. Nein. Ich habe gelernt, wie bedeutend auch die kleinen Dinge im Leben sind, dass man auch einmal komplett von vorne, bei null anfangen muss und dass ich mehr als zufrieden sein kann mit den Umständen, unter denen ich aufgewachsen bin.
Ich habe nicht nur viele Leute kennen und schätzen gelernt, sondern vor allem auch meine eigene „gesellschaftliche Stellung“; Abitur, Auslandsjahr, Studium. Hier in Deutschland, in meinem Freundes- und Bekanntenkreis ist das kaum noch etwas Besonderes. Meine Zeit in Merthyr Tydfil hat mir jedoch ein Stück weit die Augen geöffnet, hat mir gezeigt, dass es gravierende soziale Probleme überall gibt. Klar liest man beinahe jeden Tag von „sozialer Ungerechtigkeit“ in der Zeitung. Was das jedoch konkret bedeutet, habe zumindest ich erst bei der Arbeit mit Jugendlichen in Wales hautnah miterlebt.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten ist aus der scheinbar „erfüllten Zeit“ aus meinem EFD-Aufenthalt also auch noch eine wahrhaftig „erfüllte Zeit“ in Wales geworden. Ich habe zuletzt jeden Tag in Wales genossen: Die Tatsache, in einem 35.000-Einwohner-Örtchen auf der Straße von den vielen Jugendlichen wiedererkannt zu werden, das Gefühl, anderen Jugendlichen wirklich geholfen zu haben, die Stunde mit neuen Freunden und Bekannten, gemütliche Pubabende in Cardiff, Ausflüge nach Südengland, Wanderungen durch walisische Naturparks, Ausflüge an die walisische Küste, gemeinsame Stunden mit Freunden und der Freundin aus Deutschland, denen ich all die schönen Seiten meines walisischen Lebens zeigen konnte – all das hat meine Zeit in Wales zu etwas ganz Besonderem gemacht.
Und dennoch: Am Ende blieb das Gefühl, nicht all das geschafft zu haben, nicht all das gesehen zu haben, was ich gerne noch geschafft und gesehen hätte. Ich bin leider nicht nach Nordwales gekommen, habe nur ein paar Brocken Walisisch lernen können und auch in meinem EFD-Projekt nicht alle Vorhaben umsetzen können.
Aber ist es am Ende nicht immer so? Ich habe 11 spannende Monate in Wales hinter mir. Ich habe viele tolle Leute kennengelernt, viele schöne Momente erlebt, faszinierende Orte besucht, eine zweite Heimat gefunden. Und dennoch bleibt dieses eine Gefühl: Ich hätte noch so viel mehr/anderes erleben und sehen können.
Mit ein wenig Abstand und vor allem jetzt, nachdem ich wieder für ein paar Tage in Wales war, kann ich sagen: EGAL! Die Freunde, die ich hier gefunden habe, sind noch immer da. Den Jugendlichen, mit denen ich gearbeitet habe, geht es noch immer gut. Cardiff und Merthyr Tydfil sind noch immer schöne Orte. Und Wales ist noch immer meine zweite Heimat.
Achja: Ich war in Wales und nicht in England – diese Antwort bekamen nach meiner Rückkehr alle Freunde und Bekannte zu hören.