Brüssel, Brussel, Bruxelles, Brussels
Mehrsprachigkeit als nationales und europäisches Experiment.
In mancher Hinsicht ist Belgien doch ein sehr europäisches Land.
Vor einiger Zeit fuhr ich wieder einmal von Oostende mit dem Zug Richtung Brüssel, was eine Reise aus meinem sehr flämischen Küstenstädtchen in die französischsprachige Enklave von Brüssel und Umgebung bedeutete. Meistens vergesse ich an der Küste oft, dass Belgien gesamt drei offizielle Sprachen hat - Französisch, Niederländisch und Deutsch - und dann fahre ich in Richtung Brüssel und die Werbeplakate und die Frau vor mir am Schalter erinnern mich wieder daran. Die Dualität zwischen Niederländisch und Französisch prägt dieses Land.
Ich mag die Fahrt nach Brüssel, auch wenn mir Brüssel selbst oft auf die verkehrte Weise nahe geht. Es ist mir zu groß, zu laut, zu schnell, mit zu viel Verkehr und zu wenig Persönlichkeit, aber der Blick aus dem Zug zeigt abends nur die Lichter der Autos und Hochhäuser, und dann kann Brüssel fast ein wenig verträumt wirken. Als europäische Hauptstadt jedenfalls zeigt es die Herausforderungen, die eine mehrsprachige Gesellschaft zu bewältigen hat. Clubs mit Namen wie ‚Le Jubilé‘ reihen sich an Bars mit niederländischen Namen wie ‚Nostalgie‘, Werbekampagnen der NMBS auf Niederländisch reihen sich an Werbekampagnen der SNCB auf Französisch (die NMBS ist die Nationale Maatschappij der Belgische Spoorwegen, die Nationale Gesellschaft der Belgischen Eisenbahnen, deren Buchstabenkürzel sich mit der Sprache natürlich immer wieder verändert).
Bei meinem ersten Besuch in Brüssel unternahmen wir einen kurzen Abstecher ins Europaviertel, und machten einen Selfie vor dem Gebäude des EU-Parlaments, ein Jahr nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU. Das war mein Eindruck von Brüssel - eine große, laute Stadt, mit verspiegelten Limousinen und europäischen Institutionen, wo man sich als Fußgänger fast ein wenig verloren fühlt.
Das zweite Mal war ich in Brüssel auf einem Konzert, und verliebte mich ein wenig: Frühlingsluft, ein milder Abend, ein wundervolles Konzert und eine große Menge spontaner Freundschaften, geschlossen vor der Konzerthalle des AB, Anciènne Belgique. Hier wirkte Brüssel weniger groß, sondern eher gemütlich, beharrlich, belgisch eben.
Ansonsten bin ich in Brüssel meistens auf der Durchreise, als deutsche Touristin wohl unvermeidbar: hier endet der ICE aus Frankfurt am Main, am Bahnhof Brussel Zuid oder Bruxelles Midi, je nachdem welche Sprache man spricht (eine Unterscheidung, übrigens, die schon so manchen dazu gebracht hat, am Südbahnhof statt in Brüssel Zentral auszusteigen, weil man ja vom eigenen Schulfranzösisch noch weiß, dass ‚midi‘ soviel wie ‚Mitte‘ bedeutet und das ja wohl heißen muss, dass man jetzt am Hauptbahnhof ist). Daher sehe ich von Brüssel meistens Vororte, Bahnhöfe und Hochhäuser, und nichts davon ist besonders dazu geeignet, mir die Stadt näherzubringen.
Mein Schulfranzösisch habe ich in meinem ersten Jahr in Belgien beinahe komplett verlernt.
Die Idee war eigentlich, einen Freiwilligendienst in Belgien zu absolvieren, um auch mein Französisch zu verbessern (das sich eigentlich sogar sehen lassen konnte…), aber das Projekt an der Küste klang so interessant, dass ich prompt meine Pläne über Bord warf und Niederländisch - Flämisch, je nachdem wen man fragt - lernte. Quasi als Gratisbeilage gab es dazu jede Menge Vorurteile über Wallonen, und mir wurde so langsam bewusst, dass in Belgien zwei (eigentlich drei) Parallelgesellschaften existieren. In Wallonien war ich seither einmal - am Flughafen in Charleroi, um nach Spanien zu fliegen.
Belgien ist in dieser Hinsicht auch sehr interessant, weil es zwar drei offizielle Sprachen gibt, diese aber oft nicht fließend erlernt werden. So lernen flämische Kinder paradoxerweise eher Deutsch, weil es dem Niederländischen näher ist, oder belegen Latein, statt ihr Französisch zu verbessern. Als ich hierherzog, hatte ich große Vorstellungen von den Vorzügen einer bilingualen Gesellschaft, und wurde bitter enttäuscht. Die Erfahrung zeigt, dass wirklich fließend zweisprachig eher der kleinere Teil der belgischen Bevölkerung ist, und so ging es mir dann auch - ich verstehe noch sehr viel des Französischen, spreche aber selbst kaum noch (und das, obwohl ich im letzten Semester sogar einen Kurs Französisch belegte). Manche weigern sich auch schlicht, Französisch zu lernen, das sind dann die extremen Flamen, die sich wohl auch am liebsten unabhängig machen würden und oft einen Nationalismus zur Schau stellen, den ich immer mit einem bitteren Beigeschmack betrachte. (Glücklicherweise bin ich noch keinem Vertreter dieser extremen Fraktion persönlich begegnet, aber in sozialen Netzwerken und über Freundesfreunde finden sie sich immer wieder.)
Warum nun ist gerade Brüssel so europäisch für mich?
Wenn wir von den vielen europäischen Institutionen, Krisengipfeln und so weiter einmal absehen, ist es vor allem die Mehrsprachigkeit, die mich an Brüssel so fasziniert hat, und in der ich jedes Mal die europäische Thematik wieder erkenne.
In Brüssel treffen Welten aufeinander - im belgischen Sinne Flamen und Wallonen, im europäischen Sinne ganze 28 Mitgliedsstaaten mit beinahe ebenso vielen Sprachen und Lebensentwürfen. Das Ganze zeigt mal mehr und mal weniger Zusammenhalt, gerade stehen die Zeichen eher auf ‚weniger‘ und Untergangswitterer sehen ihre Chance gekommen, nun endlich den großen Knall vorherzusagen. Die Frage ist, in Belgien wie in Europa, ob ein so heterogenes Gebilde wirklich genug gemeinsames Geschichts- und Gesellschaftsbewusstsein hat, um politisch tragfähig zu sein, denn ohne Solidarität ist es zum Scheitern verurteilt. In Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs oder geringer politischer Salienz solcher Themen mag das funktionieren, aber Abspaltungsbewegungen in Schottland oder Katalonien haben den flämischen Nationalisten Aufwind verschafft, und die EU hat durch ihre Krisen mit immer mehr öffentlichem Gegenwind zu kämpfen. Und beide Gebilde - sowohl der belgische Staat als auch die Europäische Union - verschaffen sich ihre Legitimation zum Teil über komplexe bürokratische Strukturen, die von Skeptikern oft nur belächelt werden können.
Also stelle ich mir jedes Mal in Brüssel am Bahnhof die Frage, wenn ich wieder zweisprachige Werbeplakate sehe und nicht weiß, auf welcher Sprache ich mein Sandwich bestellen soll, wie dieses Land funktioniert, was es trotz aller sprachlichen und gesellschaftlichen Differenzen zusammenhält, und finde keine Antwort. Natürlich, die allgemein genannten - hohe Austrittskosten, Pfadabhängigkeit - sind bekannt, aber mache ich mir in meinem täglichen Leben wirklich Gedanken über die Trägheit von Institutionen, die sich nur ungern wieder abschaffen lassen? Eher nicht. Also muss es doch irgendwo inmitten all der negativen Bilder, die immer wieder von gescheiterten multilingualen Gebilden gezeichnet werden, Positives geben.
An dieser Stelle rufe ich mir immer wieder gerne meinen Freiwilligendienst ins Gedächtnis: ein multilinguales Gebilde im kleinen Sinne, eine Gemeinschaft aus Belgiern, Ungarn, Franzosen, Letten, Spaniern und Deutschen, was sich auch in einer Vielfalt von Ausdrücken und Redewendungen niederschlug. Die Verständigung? Missleitend bis unterhaltsam, ab und an schwierig und am Ende ein Kauderwelsch, den keiner außer uns verstand. Heute weiß ich, wie ich ‚let it snow‘ auf Ungarisch sagen kann, wie ich auf Spanisch jemanden beleidige und wie ich auf Lettisch einen Kuchen backen kann. Dazu kommen Gebräuche, die ich vorher nicht kannte, wie der Namenstag, der in Ungarn und Lettland wohl in besonderer Weise neben dem Geburtstag gefeiert wird, oder Sinterklaas am sechsten Dezember in Belgien und den Niederlanden, wo der Weihnachtsmann nach deutschen Maßstäben quasi verfrüht kommt (dafür gibt es die Geschenke in Spanien dann viel zu spät… ob das arithmetische europäische Mittel dann wohl doch wieder auf den 24. Dezember fällt?). All das sind Erfahrungen, die mich als Mensch bereichert haben und die mich offener haben werden lassen für Neues.
Findet dieser Austausch auch auf einer höheren Ebene statt? Ist es utopisch, auf europäischer Ebene auf einen bereichernden Austausch der Kulturen zu hoffen, wenn die Nationalstaaten innerhalb ihrer eigenen Grenzen so viel Schützenswertes sehen? Beweist nicht gerade das belgische Gebilde, dass man einen solchen Konflikt immer nur verschleppt, teilweise sogar über Jahrhunderte hinweg?
Ich bin, trotz allem, kein Experte für Belgien. Ich kenne keine Zahlen über den Anteil bilingualer Menschen oder den Grad an Verständigung über die flämisch-wallonische ‚Grenze‘ hinweg. Ich kann nur aus Erfahrung sprechen, und die ist beschränkt auf mein sehr flämisches Küstenstädtchen, wo ich Wallonen nur als Meerestouristen kennengelernt habe. Aber meine Erfahrung ist auch eine sehr positive, europäische Erfahrung und ich denke, dass gerade Austauschprogramme wie das, an dem ich teilgenommen habe (oder mein derzeitiges Praktikum), helfen, die Kommunikation über Grenzen und Sprachen hinweg zu fördern. Es ist utopisch, jedem jungen Europäer oder jeder jungen Europäerin alle Sprachen der EU beizubringen. Aber ich selbst habe vor einigen Wochen angefangen, mithilfe meiner Freundin Ungarisch zu lernen, zumindest ein paar Grundlagen. Hier in Belgien habe ich Niederländisch gelernt, andere Freunde lernen Dänisch, Portugiesisch, Italienisch, Kroatisch, Finnisch. Sicher werden die wenigsten in mehr als einer anderen Sprache fließend sein, aber die Erfahrung hat gezeigt, dass sich auch schon mit wenigen Worten (und sehr vielen, kreativen Gesten) viel sagen lässt. Und ich denke, dass hier die Verständigung am wichtigsten ist - an der Basis von junger Europäerin zu jungem Europäer. Immerhin sind wir die Wähler der Gegenwart und der Zukunft.
Also versuche ich, Brüssel immer mit einem Stückchen Optimismus zu verlassen. Man kann sich ja auch mit wenig Französisch im Bus ein Ticket kaufen, und es ist ja die Geste, die an dieser Stelle zählt.