Als Oskar die Grenze wegradierte, um einen verschossenen Ball zu holen
Worin liegt der Sinn von Ländergrenzen? Sie mögen zwar Ordnung schaffen und Idendität stiften. Doch manche behandeln sie wie in Stein gemeißeltes Gesetzt, obwohl sie nichts anderes sin als willkürliche Linien auf Papier. Wie weit kann man diese fragwürdige Anhimmelung treiben? Absurd weit!
Richter: „Der Angeklagte möge sich erheben. Sie, Oskar Matzerath, Schüler, wurden vergangene Nacht von der Polizei wegen Einbruch und Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet. So weit richtig?“
„Ja, Euer Ehren“
„Bevor ein Urteil gefällt wird, hat der Angeklagte das Recht, seine Sicht der Dinge darzustellen.“
„Vielen Dank. Um meine gestrigen Aktionen zu verstehen, muss man den Abend, welcher der Nacht vorausging, kennen: Wir spielten Fußball, mit ich meine ich mich und andere, Freunde, dort drüben bei Kostrzyn, an der Grenze zu Kietz, Deutschland, wo wir zwar sonst fast nie spielen, obwohl die Landschaft so berechenbar flach ist, weil der Ort doch recht weit weg liegt, aber wo wir sonst spielen durften wir diesmal nicht, weil der Besitzer des Feldes, der Vater von Helga, frischen Dung....
„Ich bitte Sie, zügig auf den Punkt zu kommen!“
„....verstreut hat. Ja, verzeihen Sie, ich verstehe. Wir spielten dort also Fußball, die Landschaft war flach, wir kickten munter den Ball hin und her, es wurde langsam dunkel, die Landschaft war wohl zu flach, richtige Tore hatten wir nicht, nur Pfosten, keine Latten, und als ich kickte, da kickte ich den Ball über die fehlende Latte und über fehlende Bäume, Hügel und sonstige Hindernisse hinüber. “
„Ja, was meinen Sie mit hinüber? Und was hat Fußballspielen in einer, wie wir jetzt wissen: flachen Gegend mit Ihrer Verhaftung zu tun?“
„Der Ball flog in hohem Bogen nach Deutschland.“
„Na und?“
„Ich musste ihn holen.“
„Wie gesagt: Na und?“
„A-aber er lag doch drüben. In Deutschland.“
„-----“
„Zwischen Kostryzin und Kietz, zwischen Polen und Deutschland, da verläuft eine Grenze, von Norden nach Süden und wieder zurück und Grenzen überschreitet man nicht. Haben mir meine Eltern so beigebracht, niemals, auch wenn ein weggekickter Ball nach mir ruft.“
„Du machst mich sprachlos, Verzeihung, ich meine Sie. Erstens: Was hätte dir passieren sollen, wenn du einen Fuß nach dort drüben gesetzt hättest? Mag ja löblich sein, dass du zum Grenzeneinhalten erzogen worden bist, aber das gilt doch für Länder, die obendrein befreundet, benachbart sind. Und Zweitens:...“
„Nein, Vater ermahnte mich stets, keinen Fuß, erst nicht zwei, hinüber zu setzen. Grenzen sind heilig, hat er gesagt, wir sind wir und die sind die, hat er gesagt, und das alles dank dieser Grenze. Dank ihr bist du einer von uns, und wenn du keiner von uns wärst, wärst du fremd. Vieles wäre also passiert, hätte ich den Ball geholt. Auch die anderen, mit denen ich gestern spielte, sagten mir, nein, Grenzen überschreitet man nicht, was dein Vater sagt, stimmt, durch diese Grenze sind wir wir und Freunde und die die und fremd. Also ließ ich den Ball dort und einer von ihnen sein.“
„....Ich flehe dich an, beeil dich mit deinem Lebensweg! Die Einbrüche, deine Verhaftung!“
„Also, ich habe ja schon vorher gesagt, dass wir fast nie an der Grenze, wo es so flach ist und Latten und Hindernisse fehlen, die einen Ball aufhalten könnten, spielen, fast nie, aber eben doch manchmal. Das war nicht mein erster Ball, den ich verschossen habe, ich habe schon eine ganze Fußballmannschaft an Bällen hinüber. Diesmal hats mir gereicht, das Fass, in dem ich meine Bälle aufbewahren, leer, und weil ich nicht die Grenze verletzen wollte, habe ich nach einer anderen Lösung gesucht.“
„Mach mir Hoffnung, sag, dass du jetzt die Einbrüche erklärst.“
„Genau. Das Problem lag an der Grenze, die dort lag bzw verlief, von Norden nach Süden. Weil ich sie nicht mit meinen Füßen verletzten wollte, weil sie mich dann zu einem Fremden gemacht hätte, musste diese Grenze weg. Nicht für immer, aber lang genug, damit ich meine Bälle holen konnte. Wie also eine Grenze, die ja unsichtbar, aber spürbar verläuft, wegschaffen, auslöschen? Na, indem ich sie ganz wortwörtlich auslöschte. Also brach ich...“
„Na Endlich!“
„...in das Arbeitszimmer meines Vaters ein, nahm mir jeden Atlas, jeden Globus, jede Wandkarte, sogar eine kleine Postkarte, und radierte eben jene Grenze weg. Keine Grenze bedeutet keine Angst, sie zu übertreten, kein wir sind wir und ihr seid ihr, kein fremder Ball oder fremder Oskar. Aber, da Sie sehen, was für ein kluger Bursche ich bin, kam mir bald der Gedanke: Jeder hat einen Atlas, einen Globus, eine Postkarte zu Hause. Die Grenzen verlaufen überall, jeder kann sich auf sie berufen, auch wenn ich sie daheim wegradiere. Also müssen auch jene weg. Gestern Abend, Sie wissen es, fand unser Dorffest statt, alle waren weg, alle Häuser leer, alle Atlanten unbewacht. Ich musste nur...“
„----“
„.... Sie wissen schon...“
„....nicht dein Ernst?!“
„Ich brach also überall ein, nahm meinen allmächtigen Radiergummi und tat so, als gäbe es meinen Ballholverhinderungsgrund nicht. Blöderweise fand die Polizei meine Idee nicht so genial wie ich...“
„Der Angeklagte gesteht seine Einbrüche?“
„Ja, aber sie fanden zu einem guten Zweck statt.“
„Hiermit verurteile ich dich, deine Eltern hereinzuschicken, weil ich gerne jemanden anbrüllen will, aber Angst habe, durch eine falsche Wortwahl gewisse Grenzen zu verletzen.“
„Sehen Sie, wieder eine...!“
Raus!