Alltag nicht ganz alltäglicher Art
Fast zwei Monate bin ich jetzt schon in Chişinău. Zeit um über mein Projekt zu reden: Ich bin Betreuer oder viel mehr Unterstützung in einem kleinen Zentrum für geistig behinderte Erwachsene.
Nachdem ich jetzt nach einem interessanten, aber auch anstrengenden On-Arrival-Training (leider inklusive eines kollektiven Krankheitstages) zumindest das Gefühl habe, alle Namen der Freiwilligen zu kennen, werde ich wie versprochen von dem sprechen, was meinen Aufenthalt am meisten prägt – meinem Projekt.
Gemeinsam mit dem Herbst ist auch ein wenig Alltag in meine sonst sehr unruhige Zeit als Freiwilliger eingekehrt. Botanica, der Stadtteil in dem ich wohne, verwandelt sich langsam von der grünen, in die rot-gelbe Lunge Chişinăus und Kastanien säumen meinen Weg zum Projekt. Nie gehe ich allerdings auf direktem Wege dorthin. Denn ich hole Dasha, eine Schülerin, ab und begleite sie. Die Strecke ist im Allgemeinen nämlich nicht ganz ungefährlich. Breite, meist vier- oder sechsspurige Straßen prägen die Stadtkarte und nicht selten sind Zebrastreifen rar. Wenn wir dann gemeinsam durch den Garten zum Gebäude mit der Adresse Strada Grenoble 163 laufen, werden wir schon auf eine Weise herzlich begrüßt, dass Außenstehende glauben könnten, man hätte sich seit Ewigkeiten nicht gesehen. Eher dezent fällt da schon das kurze „Priviet“ des ersten „Lehrers“ aus. Es handelt sich um einen gelernten Schreiner, mit dem wir gemeinsam allerhand unterschiedliche Holzarbeiten fertigen. Für mich eine ungewohnte Tätigkeit – Stichsäge, Schleifmaschine und Akku-Schrauber waren immer Gegenstände, die ich zwar irgendwann mal irgendwo in der Hand hatte, dann aber doch lieber wieder schnell weitergegeben habe. So begann ich hier meine Schreinerlehre und schnell hatten wir, meine zahlreichen Meister und ich, einen Schrank und allerhand Requisiten für unser bereits angesprochenes Musical gebaut und noch viel Weiteres repariert. Die letzten Runden mit dem Schraubenzieher werden gedreht und schon heißt es fegen, zusammenräumen und die Tischdecke ausschütteln.
Die nächsten eineinhalb Stunden steht Mathematik auf dem Stundenplan. Nadja, eine weitere freiwillige Lehrerin, schlägt die Arbeitshefte auf und schreibt die ersten Rechnungen auf. Für den einen gibt es das kleine Einmaleins, für die andere eine Übung, um die Zahlen bis 10 zu lernen und für Mira schriftliche Addition. Wie man sieht ist hier eine individuelle Betreuung, wie sie von zwei Personen nicht für bis zu fünfzehn Schüler im Alter zwischen 15 und ~50 Jahren geleistet werden kann, sehr wichtig. Doch auch hier kommt keiner zu kurz. Wie selbstverständlich wird sich gegenseitig geholfen und Mut zugesprochen. Der Ehrgeiz, der beim gemeinsamen Rechnen entwickelt wird, kann nur durch das anstehende Mittagessen gestoppt werden. Pünktlich um 12.45 Uhr rennen Russlan und Vitalij hinaus und tragen die drei Töpfe in den Gemeinschaftsraum. Wie immer schmeckt es sehr gut. Eines weiß ich aber schon sehr sicher: Krautsalat und generell Hühnchen muss ich in Deutschland erst einmal nicht essen. Danach wird gespült. Hektik kommt auf. Die Musicalprobe muss vorbereitet werden. Also alle Requisiten ein Stockwerk höher, Musik an und schon kann es losgehen. Gemeinsam wird getanzt und gesungen.
Der Ohrwurmcharakter der Lieder bleibt dabei unübertroffen. Und so ertappe ich mich auf meinem Heimweg dabei, dass ich eines dieser Lieder pfeife. Kein gutes Omen in Moldawien: Wer in der Öffentlichkeit pfeift, wird keine gute finanzielle Zukunft haben. Dieses Risiko muss ich allerdings in Kauf nehmen. Zuhause angekommen tausche ich mich mit meinen Mitbewohnern über den Tag aus und bespreche die weitere Freizeitplanung: Das Weinfest am Wochenende, ein Quizabend und das Länderspiel Moldawien-Österreich…es ist viel geboten Langsam beschleicht mich das Gefühl, dass der Alltag eines Freiwilligen nicht viel Alltägliches mit sich bringt.