Alles ist erleuchtet
Nach Reisen, Kranksein und Projekten habe ich endlich die Zeit gefunden, meine Eindrücke von Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans "zu Papier" zu bringen.
Das Kaspische Meer zieht sich in eine endlose Weite vor dem Fenster der Marschrutka. Eine Weite, die ab und an von Bauruinen oder edlen Häusern verdeckt wird. Oder Mauern, hinter denen sich nichts verbirgt außer Steinstränden und dem Meer. Die Metalllehne meines Sitzes bohrt sich in meinen Rücken. Und genau zur richtigen Zeit, als hätte er es erahnt, ertönen die ersten Klänge von James Blunts 'Face the sun' in meinem MP3-Player.
Mit dem Ansteigen der Musik erscheinen die ersten Hochhäuser am Horizont. Nach fünf Stunden Fahrt ist Baku fast schon zum Greifen nah. Ich weiß, dass es von hier noch eine Weile dauern wird, bis wir endlich den Busbahnhof erreicht haben. Aber ein Ende der Marschrutkafahrt ist absehbar. Ich wecke meine Schwester, die neben mir schläft und deute mit meiner Hand Richtung Hochhäuser. Ihre Augen erhalten sofort einen strahlenden Glanz und sie lächelt mich voller Vorfreude an. Ich weiß, was sie von Baku erwartet. Sie hat vor ihrer Reise in den Kaukasus ein bisschen gegoogelt und sich Fotos angeschaut. Ich weiß aber auch, dass sie nicht nur das Baku sehen wird, dass im Internet abgebildet ist. Wie, wenn mensch Paris googelt, Bilder von Notre Dame und Sacre Coeur und dem Eifelturm erscheinen. Das ist Paris, wie es im Bilderbuch zu finden ist. Weniger dagegen findet mensch Fotos von riesigen Hochhaussiedlungen und bettelnden Menschen. Aber genau das ist Paris auch. Und genauso, das weiß ich, wird es meiner Schwester mit Baku ergehen. Sie wird das sehen, was im Internet gezeigt wird. Und das andere Baku. Das, in dem Menschen hohe Mietpreise für kleine, nicht renovierte Wohnungen zahlen müssen.
Am Busbahnhof lassen wir uns von unseren Gastgebern in spe per Telefon den Weg zu ihrer Wohnung erklären und steigen in einen Bus, der uns dahin bringen soll. Meine Schwester schaut aus dem Fenster. Nach kurzer Zeit dreht sie sich zu mir um und erklärt enttäuscht, dass das, was sie vom Fenster des Stadtbusses aus betrachten kann, nicht wie das Baku im Internet aussehe. Bauruinen, zusammengestückelte Wohnblöcke und chaotischer Straßenverkehr. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Ich erinnere mich an meine Ankunft in Aserbaidschan vor vielen Monaten und die Fahrt durchs nächtliche Baku, das förmlich strahlte und glitzerte. Ich saß mit staunenden Augen im Taxi und wusste gar nicht, was ich als Erstes bestaunen sollte. Ich hatte mir Aserbaidschan nicht so wohlhabend vorgestellt. Und nun erlebte meine Schwester das genaue Gegenteil. Sie wusste schon, dass Aserbaidschan an sich viele strukturschwache Regionen aufweist. Sie hat ja meine Geschichten von Aserbaidschan vorher gehört. Aber das auch Baku verfallene Häuser hat, das hat sie nicht erwartet. Nicht nach all den Fotos, die die Schönheit und den Reichtum Bakus darstellten. Ich hätte ihr so gerne von den Gegensätzen erzählt, die Baku prägen. Vom Ölreichtum, der zur Schau gestellt wird und von der ungerechten Verteilung des Reichtums. Gerne erläutert, dass nur wenige Menschen einen Stück des Erdöl- und Erdgaskuchens abbekommen. Aber ich bin erledigt von der Marschrutkafahrt. Also lächele ich sie nur an und beteuere, dass wir das glitzernde Baku sehr bald sehen werden.
Nach dem Abendessen bei unseren Gastgeber ist meine Schwester nicht mehr zu bremsen. Sie fragt die Jungs ganz direkt, wo denn jetzt das leuchtende Baku sei. Und die Jungs lassen es sich nicht nehmen, uns sofort eine Stadtführung durchs nächtliche Baku zu geben. Wir nehmen den Bus und sind in 15 Minuten direkt neben den Flame Towers (den Flammentürmen). Seit ihrer Erbauung sind die Flame Towers mit 190 Metern die höchsten Gebäude in Baku. Und sie sind ein neues Wahrzeichen von Baku. Da es bereits dunkel ist, zeigen sich die drei Türme in ihrer schönsten Pracht. Auf ihren Fenster wird abwechselnd die aserbaidschanische Flagge, Feuerflammen und elektronische Männchen, die die aserbaidschanische Flagge schwenken, dargestellt.
Die Projektion kann mensch theoretisch die ganze Nacht bestaunen. Uns wird aber nach einer kurzen Weile kalt und wir ziehen weiter. Nach ein paar Metern stoppen wir allerdings bereits wieder, da wir nun auf der Aussichtsplattform angekommen sind, von der aus sowohl die Türme als auch die Innenstadt von Baku und die Uferpromenade fotografiert und bestaunt werden können. Ich komme nicht daran vorbei ungefähr 300 mal auf den Auslöser meiner Kamera zu klicken. Meiner Schwester geht es ähnlich. Der Faszination des Anblicks und der perfekten Position der Aussichtsplatform kann ich mich nicht entziehen. Und obwohl ich eigentlich sehr zufrieden bin mit meiner kleinen Reisekamera, wünsche ich mir in diesem Moment, eine wesentlich bessere Kamera zu besitzen, um die Farbspiele und die kleinen Lichterdetails besser festhalten zu können.
Unser Spaziergang führt uns den Berg hinunter an die Uferpromenade. Ich blicke zurück und die Flame Towers ragen fast schon majestätisch in den nächtlichen Himmel. Was ist eigentlich in diesen Türmen, frage ich unsere Gastgeber. Ein Turm sei ein Hotel, ein ziemlich teures noch dazu. In den anderen beiden befinden sich Büros und Wohnungen. Später lerne ich, dass davon die meisten leer stehen. Viele Menschen gibt es nicht in Baku, die sich diesen Luxus leisten können. Aber das zählt in Aserbaidschan leider oft nicht. Prachtvolle Gebäude und Freizeitangebote werden errichtet, ohne daran zu denken, wie viele Menschen an diesem Luxus teilhaben können. Aber stolz sind sie alle auf diese Investitionen. Schließlich zeigen sie, wie weit Aserbaidschan seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gekommen ist. Der Fortschritt ist hier angekommen. Zumindest der, der mit Erdölgeldern erkauft werden kann. Ich drehe mich nochmal um und betrachte den Anblick. Ich versuche die Gedanken zu unterdrücken, dass hier die ganze Nacht alles erleuchtet wird, während wir in Ganja manchmal ohne Strom auskommen müssen. Ich schiebe den Gedanken zur Seite und lasse mich im Moment fallen. Ich genieße die moderne Schönheit und das Gefühl von Urbanität, das durch den Anblick kreiert wird.
Den Rest des nächtlichen Spaziergangs verbringe ich damit, beleuchtete Springbrunnen, glitzernde Häuserfassaden und die restaurierte Altstadt zu bewundern. Ich vergesse, dass es außerhalb dieses kleinen Bereichs eine Welt gibt, in der Mieten in die Höhe schnellen und Menschen nicht wissen, wie sie ihr Leben bestreiten sollen. Ich vergesse, dass es immer noch diese zusammengestückelten Wohnhäuser gibt. Ich möchte nicht daran denken, dass die Innenstadt von Baku von reichen Aserbaidschaner*innen und ausländischen Expert*innen in Beschlag genommen wurde, denen es egal ist, dass mensch für einen Cappuccino fünf Euro und für ein Glas Bier sechs Euro bezahlen muss. Die sich nicht beschweren, dass europäische und US-amerikanische Modeketten das Stadtbild prägen und ihre Ware zu teureren Preisen als in Deutschland anbieten. Diese Menschen fragen dich eher, ob du heute lieber Pizza oder chinesisch essen möchtest. Und zählen dir Möglichkeiten zum Ausgehen auf. In dieser Bar gibt es türkische Livemusik, während in der nächsten eher elektornische Musik aufgelegt wird. Und wenn du wirklich gerne tanzen gehen möchtest, solltest du im Hilton in den 27. Stock gehen. Dort gebe es einen netten Club. Mein Kopf dreht sich fast vor Erstaunen und Unverständnis. Bars, Clubs, ausländisches Essen? Ganja erscheint soweit weg in diesem Moment. Ich lasse mich treiben und genieße die Oberflächlichkeit, die mir geboten wird. Ich will nicht daran denken, dass unter der Oberfläche die Geschlechterverhältnisse genauso rigide gehandhabt werden wie in Ganja. Ich will auch nicht wissen, ob die Frauen, die ich in den Bars sehe, Prostituierte sind oder nicht. Ich weiß, dass ich mich damit auseinandersetzen werde. Nur eben nicht jetzt. Nicht in diesem Augenblick, in dem ich mich durch die glitzernde Fassade von Baku einlullen lassen möchte. Nur für einen Abend, eine Nacht. Morgen werde ich aufstehen, aus dem Fenster schauen und die Wohnblöcke aus Sowjetzeiten anstarren. Ich werde mir wünschen, dass mehr Wohnungen in Aserbaidschan Heizungen haben, weil die Wohnungen dann nicht immer so verdammt kalt wären. Ich werde mit unseren aserbaidschanischen Gastgebern Mietpreise, Wohnstandards und Arbeitsbedingungen in Baku diskutieren. Und meiner Schwester weitere Details aus dem Leben in Aserbaidschan präsentieren. Aber heute Nacht, für einen kurzen Augenblick, sperre ich die Realität aus. So, wie es Baku und seine Glitzerwelt gerne hätte.