11.11: Polnischer Unabhängigkeitstag in Warschau
Am 11. November feiert man in Polen den Unabhängigkeitstag. Bereits seit 96 Jahren existiert Polen nach 123-jähriger Teilung zwischen Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn wieder als unabhängiger Staat. Eigentlich ein Grund zum Feiern ... doch meine Erfahrungen mit diesem Festtag in Warschau waren von sehr spezieller Sorte.
Bereits am Vortag waren die Vorbereitungen in Warschau in vollem Gange und man hätte meinen können, die Festveranstaltung würde jeden Moment und nicht erst am nächsten Morgen beginnen. Am Plac Marszałka Józefa Piłsudskiego wurde das polnische Militärordinariat in rot und weiß angestrahlt, eine Bilder- und Filmshow kündete von den Ruhmestaten des Heeres und der Geschichte Polens im Allgemeinen, sehr starke Scheinwerfer beschienen den Platz, des Grabmal des Unbekannten Soldaten war blutrot ausgeleuchtet und geschäftigt probten Militärs das Marschieren in der Formation und Politiker das Abstellen von Blumen und Kränzen. Rot-weiße Banner überspannten in einer solchen Vielzahl die ganze Länge der Straße, sodass man vor polnischen Nationalfarben den Asphalt nicht mehr sah.
Vor dem Präsidentenpalast hielten wieder Anhänger des rechten Flügels Mahnwache für den 2010 in Smolensk bei einem Flugzeugabsturz verstorbenen Präsidenten Lech Kaczyński und alle weiteren, hochrangigen Politiker und Offiziere, die im selben Flugzeug verunglückten. Viele Menschen trugen Flaggen bei sich und aus roten und weißen Grablichtern war ein von einem Wappen ummanteltes Kreuz gestellt. Vermutlich soll es an das Kreuz erinnern, das einst als Gedenken an das Unglück vor dem Präsidentenpalast stand und dann auf Geheiß des neuen Präsidenten Bronisław Komorowski in die Heilig-Kreuz-Kirche gebracht wurden, weil es vor dem Palast nicht stehen bleiben konnte.
Am nächsten Morgen, dem 11. November, sollte es in der Hauptstadt anlässlich des Polnischen Unabhängigkeitstages ein reichhaltiges Programm für jederman geben. Es begann um 8:30 Uhr an der Józef Piłsudski Statur mit einer Kranzniederlegung durch den Präsidenten. Er erschien auch pünktlich – sein Wagen vorn und hinten jeweils von einem Polizei- und einem Security-Wagen eskortiert. Er stellte sich mit einigen anderen Politikern in einer Reihe vor dem Denkmal auf, während zwei Soldaten den großen, mit roten und weißen Blumen geschmückten Kranz brachten und ablegten. Die Amtshandlung des Präsidenten bestand dann nur noch darin, das bedruckte Schmuckband zu richten. Überraschenderweise waren nur etwa 20 Leute da, um den Präsidenten zu sehen, Absperrungen gab es auch keine, nur drei lockere Ringe aus Security, Militär und noch einmal Security. So aber nutzte Präsident Bronisław Komorowski die Gelegenheit zu den wartenden Menschen zu gehen, Fotos mit ihnen zu schießen und Kokarden in den Nationalfarben zu verteilen. Dieses volksnahe und freundliche Verhalten ist nicht nur aufgesetzt – tatsächlich sind die meisten Polen sehr zufrieden mit ihrem Präsidenten, er tue nichts Schlechtes und versuche stets etwas gemeinsam zu machen, alle Gruppen zu integrieren und den Dialog zu suchen. Er gehört der liberal-konservativen PO (Platforma Obywatelska – Bürgerplattform) an und ist seit August 2010 im Amt.
Um 9:00 Uhr startete die offizielle Feiertagsmesse in die Johanneskathedrale in der Altstadt, zu welcher der Präsident persönlich auf seiner Homepage eingeladen hatte und an welcher er auch selbst teilnahm. Am Eingang gab es eine Kontrolle auf Waffen, aber sie war bei weitem nicht so scharf wie an Flughäfen. Die Kirche war gefüllt, aber nicht voll – es waren noch viele Steh- und sogar noch Sitzplätze frei und das obwohl die halbe Kirche schon von Politikern und Militärs okkupiert war. Der Grund für den mangelnden Kirchbesuch dieser bedeutenden Messe an diesem wichtigen Feiertag ist die Tatsache, dass vielen Bürgern Kirche und Staat im eigentlich säkularen Polen zu sehr verwoben sind, wenn etwa Priester in ihren Predigten offenen Wahlkampf führen, und sie so die Kirche als ihren Ort des Glaubens von Politikern "verunreinigt" sehen.
Im Chorraum saßen 3 Gruppen, 2 in historischen Gewändern und eine Art Ritterorden. Links und rechts standen immer jeweils 3 Soldaten einer Einheit mit Standarte und hinten verschiedene Gruppen Pfadfinder. Als der Präsident kam, standen alle auf und setzten sich erst mit ihm wieder hin. Gehalten wurde die Messe vom Militärbischof der polnischen Streitkräfte, Józef Guzdek. Nachdem er eingezogen war, wurde die Nationalhymne gespielt und alle Soldaten präsentierten Säbel und Standarten. Die meisten Aufgaben in der Messe übernahmen auch Soldaten: Stab und Mitra, den Altardienst, die Lesung und Fürbitten sowie die musikalische Gestaltung mit Blasorchester und Chor.
Um 11:11 Uhr beginnt in Deutschland die Faschingszeit – in Warschau fiel um diese Zeit der Startschuss zum Bieg Niepodległości, dem Unabhängigkeitslauf, an dem man als Läufer oder als Nordic-Walker teilnehmen konnte. Das Besondere an diesem Lauf ist, dass die Starter weiße und rote Trikots tragen und alle weißen Läufer auf einer Seite starten und die roten auf der anderen, sodass die laufende Masse idealerweise die Polenflagge auf den Asphalt malt. Je nachdem, wie sehr sich die Läufer unterwegs schon durchmischt hatten, klappte das besser oder schlechter, doch die Atmosphäre der anfeuernden Menge war atemberaubend. Die, denen die Märsche und Paraden zu aufgeblasen sind, machen sich den Unabhängigkeitstag durch dieses Event auch zu einem besonderen Erlebnis.
Auch am ehemaligen Pawiak-Gefängnis gab es um die Mittagszeit eine Kranzniederlegung, die vom Unabhängigkeitsmuseum organisiert worden war. Hier hatten sich noch weniger Menschen zusammengefunden, was wohl daran lag, dass zur selben Zeit die Militärpräsentation vor dem Grab des Unbekannten Soldaten begann. Es war also sehr leer, als die aktuelle Erziehungsministerin und Gründerin der PJN (Polska Jest Najważniejsza – Polen ist das Wichtigste), Joanna Kluzik-Rostkowska, zusammen mit einem ehemaligen Häftling des Gefängnisses einen Kranz niederlegte, gefolgt von der stellvertretenden Programmdirektorin des Unabhängigkeitsmuseums Jolanta Dąbek.
Um 12:00 Uhr begann auch die Militärpräsentation am Józef-Piłsudski-Platz, auf welcher sich alle Militäreinheiten präsentierten und weitere Kranzniederlegungen folgten. Es war sehr voll, alle wollten etwas sehen und hören. Doch natürlich war auch für das leibliche Wohl gesorgt – an den zahlreichen Ständen im Sächsischen Garten konnte man warmen Käse, Kringel oder Zuckerwatte kaufen und wer noch keine Flaggen, Kokarden oder Schleifchen hatte, konnte sie bei fliegenden Händlern erwerben.
Die Parade an sich begann etwa 13:15 Uhr. Sie führte vom Grab des Unbekannten Soldaten durch die Straßen Krakowskie Przedmieście, Nowy Świat und Aleje Ujazdowskie bis hin zum Pałac Belwederski. Anders als in den letzten Jahren marschierten diesmal keine Soldaten in historischen Gewändern mit und es gab auch keine berittenen Einheiten. Lediglich die vier militärischen Einheiten (Heer, Luftwaffe, Marine und Spezialkräfte) bildeten die Spitze, allen voran das Musikkorps. Es folgten zwei schwarze Führungswagen, ein Unterhaltungsbus, der die ganze Sache ein bisschen mit Moderation und Gesang aufheiterte, dann kam der Militärchor, die Politiker und dann schon ganz viele Menschen mit Flaggen, Bannern und Kokarden.
Die Parade, deren Träger übrigens offiziell der Präsidenten ist, stoppte an verschiedenen Denkmälern, z.B. des Kardinals Stefan Wyszyński, der in den 80er Jahren entscheidend zwischen Solidarność und kommunistischer Regierung vermittelte und in Polen als Symbolgestalt des geistigen Widerstandes gilt, des ehemaligen Ministerpräsidenten Ignacy Jan Paderewski und schließlich am Denkmal des Marschalls und ersten Präsidenten Polens Józef Piłsudski. Und an allen Stationen gab es Kranzniederlegungen, kleine Reden und Musik. Kein Wunder, dass der Präsident nach den fast 2,5h Marsch reichlich geschafft aussah, als er seine Abschlussrede begann, zumal die geplante Zeit schon um mehr als 30min überschritten war. Zum Abschluss wurde noch einmal die Nationalhymne gespielt, diesmal auch alle Strophen. Überraschenderweise sangen nicht viele Leute mit, der Präsident natürlich und die Politiker, die von der Kamera erfasst wurden, aber aus der feiernden Masse waren nur vereinzelte Gesänge hörbar.
Und damit war der offizielle Teil des Tages beendet, das Militär zog geordnet ab und der Militärchor bot noch ein paar schöne Stücke dar. Bemerkenswerterweise gab es anschließend freie Verpflegung für alle Paradeteilnehmer. In den vielen Verpflegungszelten, die die Straße säumten, wurden kostenlos Żurek und Grochówka, also Erbsensuppe, ausgeschenkt.
Gegen 15:00 Uhr startete die rechte Parade, die in diesem Jahr auch die deutschen Nachrichten erreichte. Der Marsz Niepodległości, nicht zu verwechseln mit der offiziellen Parade, dem Marsz „Razem dla Niepodległej“, führt seit 2010 alljährlich durch die Straßen Warschaus und zieht zehntausende Teilnehmer aus ganz Polen an. Dieses Jahr nahmen 50.000 Menschen an dem Zug teil. Mittlerweile typisch geworden sind die Krawalle und Ausschreitungen mit der Polizei, zu denen es stets kommt, so wurden die letzten beiden Jahre der Regenbogen in Brand gesteckt und letztes wie auch dieses Jahr die russische Botschaft angegriffen, indem sie mit Feuerwerkskörpern und Molotow-Cocktails beworfen wurde. Mehrere Wachhäuschen sowie unzählige Autos sind während der ganzen Veranstaltung in Flammen aufgegangen, etwa 5.000 schwer bewaffnete Polizisten waren im Einsatz, von denen 25 verletzt wurden, und knapp 300 Hooligans wurden vorläufig festgenommen, nachdem sie sich mit den Ordnungshütern eine zweistündige Straßenschlacht vor dem Nationalstadion geliefert hatten. Die traurige Bilanz eines Tages, an dem eigentlich der freudige Umstand der Unabhängigkeit des eigenen Landes gefeiert werden sollte. Immerhin ist Polen nun schon seit 96 Jahren ein souveräner Staat, nachdem es für 123 Jahre zwischen Russland, Preußen und Österreich-Ungarn aufgeteilt gewesen war. Ende des zweiten Weltkriegs nämlich, im Frühjahr des Jahres 1918, hatten die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn von Russland die staatliche Unabhängigkeit Polens gefordert, was auch vom amerikanischen 14-Punkte-Programm unterstützt wurde, und so wurde Józef Piłsudski, nachdem er aus der deutschen Haft in Magdeburg entlassen worden war, zum ersten polnischen „Präsidenten“. Die ersten freien Wahlen zum verfassungsgebenden Sejm fanden im Januar 1919 statt und bestätigten Piłsudski als Staatsoberhaupt, weshalb er in Polen eine wichtige Persönlichkeit ist und die Parade gleich zwei seiner Denkmäler ehrte.
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