Wie ungleich ist Rumänien?
Ein kleiner Überblick und Einstieg in meine Reportagereihe zur sozialen Ungleichheit in Rumänien.
Als ich gesagt habe, dass ich für ein halbes Jahr nach Rumänien gehen würde, reagierte der ein oder andere mit Verwunderung. Als Nordwesteuropäer hat man traditionell weniger die Balkanstaaten auf dem Schirm, wenn es um die Europäischen Austauschprogramme (oder die EU überhaut) geht. Für viele ist mein momentanes Heimatland schön, aber irgendwo auch abgehängt. Die Region Oltenia, in der meine Stadt liegt, ist nach der Region Moldawien die ärmste des Landes. Man bemerkt bereits nach 2 Tagen Urlaub in Constanta, einer vergleichsweise reichen Hafenstadt, einen Unterschied. Constanta wirkt moderner, Armut ist weniger präsent und der ÖV ist besser ausgebaut. Während meines Aufenthaltes habe ich vor, mich mit dem Ausmaß, den Hintergründen und den Auswirkungen der sozialen Ungleichheit Rumäniens zu befassen. Es könnte etwas zahlenlastig werden, aber ich hoffe, ihr habt dennoch Freude beim Lesen.
Rumänien ist ein ungleiches Land. Nach dem Social Justice Index (SJI) rangiert Rumänien auf dem letzten Platz der Europäischen Union und auf dem drittletzten der OECD (vor Mexiko und der Türkei). Der SJI ist eine vielleicht abstrakte Kennzahl, die die soziale Durchlässigkeit (Aufstiegschancen und gesellschaftliche Partizipation) einer Gesellschaft abzubilden versucht. Die Parameter Armutsprävention, Bildungsgerechtigkeit, Arbeitsmarktzugang, sozialer Zusammenhalt, Gesundheit und Generationengerechtigkeit fließen mit verschiedener Gewichtung ein[1].
Das reale Bruttoinlandsprodukt verzeichnet seit EU-Eintritt ein Realwachstum von durchschnittlich 2,1 Prozent, eines der größten in Osteuropa. Das BIP pro Kopf ist andererseits eines der niedrigsten der Gemeinschaft, liegt aber vor Griechenland oder Kroatien. [2] Offenbar hat das Land steigendes wirtschaftliches Potential, aber aus dem SJI und Gesprächen mit RumänInnen geht hervor, dass die Bevölkerung davon nicht sonderlich profitiert. Laut Victoria Stoiciu von der Friedrich-Ebert-Stiftung[3] investiert der rumänische Staat im EU-Vergleich prozentual (BIP gemessen) am wenigsten in Sozialschutz. Dies ist Angesichts der Tatsache, dass für viele Menschen der Lohn nicht zum Leben reicht, besonders gravierend. Rumänische Gehälter liegen bei zehn Prozent des EU-Durchschnitts, die Lebenshaltungskosten bei 70 Prozent. Der Anteil der arbeitenden Bevölkerung, die trotz Arbeit arm ist, ist der höchste in Europa. Daher suchen viele Rumänien ihr wirtschaftliches Glück im Ausland und schicken Geld an ihre Familien. Arbeitskräfte, die hier auf dem Arbeitsmarkt wieder fehlen. Das Geld aus der Diaspora überstieg in nicht-Corona-Zeiten übrigens die ausländischen Direktinvestitionen. Es gibt viele staatliche Strategien, Armut im Land zu bekämpfen, jedoch geht die Umsetzung nur schleppend voran.
[1] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/734996/umfrage/soziale-gerechtigkeit-in-rumaenien-nach-dem-social-justice-index/
[2] https://www.bpb.de/themen/europa/suedosteuropa/322454/rumaenien/
[3] https://adz.ro/meinung-und-bericht/artikel-meinung-und-bericht/artikel/wie-arm-ist-rumaenien-eigentlich