Auf Suche nach der verlorenen Fremde
Vom Suchen und Finden der Fremde in unser Generation.
Als ich vor acht Jahren Deutschland verließ, brannte es mir unter den Nägeln. Ich wollte raus und auf Spanisch durch die Bars schreien, auf Griechisch mit der Zunge schnalzen und wie Benigni auf die Tische springen und vor Lebensfreude singen. Vor allem wollte ich eins: Verstehen, was es heißt, in anderen Kulturen zu leben und sich selbst in der Fremde wiederzufinden. Aber wie macht man das? Wie kann man das Fremde verstehen lernen, bis es nicht mehr fremd, sondern Teil der eigenen Persönlichkeit wird? Ich denke, das geht nur, wenn man sich die Hände schmutzig macht: Sich ins Fremde stürzt und dabei vergisst.
So wie Raphael Fellmer, ein junger Aktivist aus Berlin. Raphael reiste für ein Jahr ohne Geld durch die Welt. Angewiesen auf den täglichen Kontakt mit Fremden—sowie auf die kleinen großen Gesten der Gastfreundschaft—reiste er von Den Haag bis Algerien, dann weiter über die Kanarischen Inseln nach Brasilien und von dort bis nach Mexiko: Ohne einen Cent zu bezahlen. Frei. Und doch komplett abhängig—von Fremden und ihrer Menschlichkeit.
Dieses Beispiel mag zwar radikal klingen, ist es aber eigentlich nicht. Denn wir alle sind auf einander angewiesen. Die südafrikanische Philosophie Ubuntu besagt, dass wir nur menschlich in der Interaktion mit anderen Menschen sind. Das gilt heute mehr denn je. Denn ob Klimawandel, Terrorismus oder Krankheiten—noch nie gab es eine Zeit, in der wir mehr miteinander verbunden waren. Und noch nie gab es eine Zeit, in der es mehr darauf ankam, miteinander Lösungen zu finden.
In Deutschland ist das Fremde Teil unseres Alltags. Mit der letzten Bundestagswahl hat sich die Zahl der Abgeordneten mit Migrationshintergrund verdoppelt. 22 Prozent aller in Deutschland geborenen Kinder haben mindestens einen ausländischen Elternteil. Trotzdem ist es nicht diese Fremde, die mir fremd vorkommt. Die „Fremde“ ist für meine Generation nicht, wie das Lexikon sie definiert, ein „unbekanntes, fern der eigenen Heimat liegendes Land“. Denn wir, die Generation Erasmus, teilen so viel miteinander, dass es oft nicht das fern der Heimat liegende Land ist, welches uns fremd erscheint; vielmehr ist es oft die Fremde vor unserer Haustür— die Fremde zwischen Generationen, zwischen Weltanschauungen und Erfahrungen—die es für uns zu überbrücken gilt.
In Anbetracht dieser terra incognita vor der eigenen Haustür erinnere ich mich gern an Raphael, der für ein Jahr jeden Tag aufs Neue - ohne jemanden zu kennen, ohne zu wissen wo er am Abend schläft und ob ihm jemand etwas zu essen gibt - durch die Welt getrampt ist. Sein Roadtrip inspiriert mich ungemein. Denn ich finde: Wir müssen uns ins Leben schmeißen. Jeden Tag aufs Neue. Und wir müssen verstehen lernen, was unser Gegenüber denkt, fühlt und durchlebt. Dabei müssen wir akzeptieren, dass von allem, was wir richtig finden, das Gegenteil ebenso richtig sein kann und darf. Die bulgarisch-französische Philosophin Julia Kristeva hat das so ausgedrückt: „To worry or to smile, such is the choice when we are assailed by the strange; our decision depends on how familiar we are with our own ghosts.”
Was heißt es also, sich ins Leben zu schmeißen und mit den eigenen Geistern zu ringen? Für mich hieß das in den letzten Jahren: ohne Begleitung durch die Slums Ecuadors laufen, Trampen durch Japans Dörfer, Schlangenblut auf Ex in den Seitengassen von Hanoi trinken oder Hand in Hand in der Moschee um die Ecke mit vollbärtigen Sufis drei Stunden ekstatisch „Allah!“ zu besingen. Es hieß aber auch, die müden Augen im Straßburger EU-Parlament gezwungen aufzuhalten oder mit Herzklopfen im Bus Vokabeln zu pauken, während der Fahrer gefährliche Kurven durch die griechische Berglandschaft nimmt.
Heute, acht Jahre nachdem ich Deutschland verlassen habe, ziehe ich Bilanz: Ich kann in fünf Sprachen lästern, leben und lieben. Wichtiger noch, diese Sprachen und Kulturen sind Teil meiner selbst geworden. Wenn also Goethe schreibt: „So viele Sprachen man spricht, so viele Persönlichkeiten hat man“, dann verstehe ich genau, was er meint. Anders als er denke ich jedoch, dass all diese Sprachen und Kulturen eine einzige Persönlichkeit formen.
Viele junge Menschen meiner Generation empfinden dies ähnlich. Sie haben wie Raphael und ich im Ausland gelebt und sich den Widersprüchen zwischen den Weltanschauungen gestellt. Sie haben wie ich den Kulturschock gesucht und sind an ihm gewachsen. Sie zappen wie ich täglich durch die virtuellen englisch-, französisch- und deutschsprachigen Zeitungen, um die gleichen Informationen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu sehen.
Für uns ist die Fremde zum Vertrauten geworden: Die Suche nach dem Fremden wird zur Grundeinstellung. Und zur Notwendigkeit. Denn unsere Welt bewegt sich immer schneller, ist immer vernetzter. Gleichzeitig gibt es immer weniger Menschen, die verantwortlich sind für das, was global passiert. Es ist nun an uns, die wir die Fremde gesucht und sie zu einem Teil unserer selbst gemacht haben, das Widersprüchliche zu verbinden. Es liegt an uns, Lösungen zu finden—jeder auf seine Art und Weise. Raphael hat seine Antwort gefunden: Er lebt in Berlin und zieht ohne Geld als Aktivist durch die Schulen und Fernsehstationen des Landes, um über seine Erfahrungen zu sprechen. Ich bin gespannt, was meine Lösung sein wird.